Geschichte und Geschichten – wie leicht fallen beide unzuverlässigen Erzählern anheim zu deren sinistren Zwecken! Insbesondere wenn es sich um historische Erzählungen aus kriegerischen Epochen mit ihrem spezifischen Freund/Feind-Denken handelt. Dies ist die Geburtsstunde der Spionage und des Spions, der zwischen den Fronten wandelt und alle ihre Codes kennt. „Spionage“, so lernt man früh in „Rogue Agent“ von Drehbuchautor Michael Bronner und dem Regie-Duo Adam Patterson und Declan Lawn, „heißt Geschichten erzählen“, und Leute „lesen“ zu können sei eine ihrer wichtigsten Voraussetzungen. Dies erfahren wir nicht durch die Stimme einer Erzählerin aus dem Off, die die ersten zehn Minuten (nicht zu aufdringlich) kommentierend durch die Handlung der Vorgeschichte führt, sondern bereits von dem sehr auskunftsfreudigen, nie um ein Wort verlegenen Geheimnisträger Robert Freegard (James Norton) selbst – wenn das denn sein wahrer Name ist …
Die Story basiert zunächst auf Tatsachen; es gibt also eine „wahre Geschichte“: Robert Hendy-Freegard nutzte Anfang der 1990er-Jahre die latent hysterische Stimmung in der britischen Gesellschaft infolge einer neuerlichen Gewaltwelle durch die IRA und gab sich, zunächst in Studentenkreisen, als Agent des MI5 aus (obwohl er in Wirklichkeit nur Barkeeper und später Autoverkäufer war). In seiner Rolle „rekrutierte“, vielmehr verführte und betrog er (hauptsächlich) Frauen ganz unterschiedlichen Charakters und Herkommens, köderte sie mit der politisch-gesellschaftlichen Bedeutung seines/ihres Tuns – stets geht es vorgeblich um die Bekämpfung des Feindes im Inneren –, verfolgte jedoch vor allem eigene, meist schnöde finanzielle Motive, wie sich schließlich herausstellen sollte. Seine wechselnden Opfer (wenn man sie so nennen will) erlagen anfangs seinem Charme oder seiner Beredsamkeit, vielleicht auch dem Thrill eines Undercover-Lebens, das er ihnen vorgaukelte und zu dem er sie ebenfalls nötigte. Der originale Hendy-Freegard brachte es so zu einigem zweifelhaften Ruhm in der modernen Medienkultur: Sowohl Channel Five als auch Netflix haben sich seiner vor dieser Dramatisierung bereits in unterschiedlichen Formaten angenommen.
Komplexes Strategiespiel einsamer Herzen
Was „Rogue Agent“ (ein vieldeutiger, leicht unscharfer, letztlich jedoch passender Titel) gut und richtig macht: Der Film schaut stets mit einem wohlwollenden Blick auf das Schicksal der Verführten, stellt sie nicht voyeuristisch aus, sondern nimmt sie und ihre Bindung ernst. Ihr Beziehungsgeflecht mit Freegard wird als komplexes Strategiespiel einsamer Herzen und defizitärer Lebensgeschichten gezeigt. Am meisten zu gewinnen hat bei diesem jedoch der Hochstapler mit der narzisstischen Persönlichkeitsstörung selbst, der von seinen seriellen Gefährtinnen (Partnerinnen kann man sie kaum nennen) gleichermaßen Liebesschwüre und solche der unbedingten Verschwiegenheit einfordert. Seelischen Kollateralschaden nimmt er dabei bedenkenlos in Kauf – auf allen Seiten, denn der „Rogue Agent“, das wird im weiteren Verlauf dieser psychologischen Studie des Schauspielersyndroms offenbar, nimmt durchaus auch selbst Schaden an seiner Seele. Manifester Selbsthass bricht sich Bahn, wenn er reihenweise am menschlichen Gegenüber wie ein Schurke handelt.
Da wäre zuerst die junge, unbedarfte Sophie (Marisa Abela), noch aus Campuszeiten, die er ihrem bürgerlichen Elternhaus und ihrer religiösen Mutter entzieht und mit dem Pathos des einsamen Lebens der Spione (und Spioninnen) romantisch so beeindruckt, dass sie über lange Zeit ein ereignisloses Leben im Untergrund, auf verlorenem Posten in Kauf nimmt und dabei von Freegard vielfältig, auch sexuell missbraucht wird. Wieder einmal erweist sich, dass praktische Spionage vor allem eines ist: warten.
Der Betrüger findet seine Meisterin
Eines Tages jedoch wird Freegard übermütig und überschätzt seine charismatische Wirkung auf seine Umwelt, als er die durchaus selbstbewusste, erfolgreiche Anwältin Alice Archer (Gemma Arterton) ins Fadenkreuz nimmt. Wiewohl auch sie zu Beginn seinem charmanten Werben erliegt (Norton sieht eigentlich zu gut aus für die hauptsächlich psychologischen Implikationen dieser Rolle), wird schnell klar, dass er in ihr endlich seine Nemesis gefunden hat. „Ich liebe nur dich!“, bekennt er wohl einer jeden; hier könnte er ausnahmsweise die Wahrheit gesagt haben.
Alice tut zweifelnd mehrfach das Richtige, hört sogar auf die Stimme der Vernunft in Gestalt eines Privatermittlers (Julian Barratt), kann jedoch nicht verhindern, dass auch sie vom betrügerischen Herzensbrecher mächtig aufs Kreuz gelegt wird. Erst nachdem sie, die Polizeikräfte und Sophie ihre Informationen über Freegard teilen und ihre Anstrengungen, seiner habhaft zu werden, koordinieren – was dramaturgisch in gelungener Spannungskurve ausgeführt wird –, gelingt es, ihn zu stellen und ihm – vorerst! – das Handwerk zu legen. Viele Hunde sind des Hasen Tod!
Einmal Con Artist, immer Con Artist
Speziell im letzten Drittel gewinnt „Rogue Agent“ noch einmal zusätzlich an Rasanz und Signifikanz; die Handlungsfäden ergeben ein Gewebe und Muster; der notorischen Figur und dem Psychogramm des „Con Artist“ werden weitere soziokulturelle Aspekte erschlossen, und dem Film gelingen einige starke Bildfindungen, etwa wenn Sophie wie zum Agentenaustausch auf der Glienicker Brücke Alice in die Arme läuft oder – eine Verlorene Tochter – zum guten Ende ihrer seligen Mama. Gut gespielt, mit historisch sehr korrektem Soundtrack von The Cure unterlegt und in richtigem Tempo exekutiert, berührt der Film im finalen Akt gar politische Dimensionen: Dass sie das Geschehene als Geschichte begreift, dass sie es sich dadurch als „ihre Geschichte“ aneignet, erst das verbürgt persönliche Freiheit – zu dieser Einsicht gelangt Alice Archer vor Gericht als Zeugin in eigener Sache. Doch auch Freegards Geschichte reißt im Gefängnis nicht einfach ab, denn einmal „Con Artist“, immer „Con Artist“. Und zu warten, auf seinen neuerlichen historischen Augenblick, das hat er als Spion ja schließlich gelernt!