„The night is bitter / The stars have lost their glitter / The winds grow colder / Suddenly you’re older / And all because of the man that got away“: Eigentlich alles, was Schwulenikone Judy Garland in einem Song aus „A Star Is Born“ (1954) beklagt, trifft auf Pat Pitsenbarger (Udo Kier) zu. Er lebt im Altenheim, denkt Stunde um Stunde an seinen Lebensgefährten, der vor vielen Jahren an Aids starb. Wir sehen den in Erinnerungen an David versunkenen Pat und hören Garland „The man that got away“ singen. Pat hat jedoch nicht nur seinen Mann verloren. Sein ganzes früheres Leben ist ihm abhandengekommen, darunter ein florierender Friseursalon in Sandusky, Ohio, mitsamt seinen reichen Kundinnen. Und auch der queere Club, in dem Pat und seine Freunde als Dragqueens auftraten, scheint nur in seinen Träumen noch zu existieren – bis der Anwalt seiner reichsten Ex-Kundin in die unterfinanzierte Öde des Pflegeheims hineinplatzt und den einst gefragtesten Hairstylisten Sanduskys bittet, den letzten Wunsch der entschlafenen Rita zu erfüllen. 25.000 Dollar aus dem Nachlass der Verstorbenen sollen Pat dazu verlocken, die Tote für die Trauerfeier zu frisieren und sie zu schminken. „Begraben Sie sie schlecht frisiert“, entgegnet Pat dem Advokaten – um sich dann doch zu einer „Sentimental Journey“ in die alte Heimat aufzumachen, obwohl die schlechte Konstitution des mittellos Reisenden und seine kleinen Schwächeanfälle andeuten, dass auch Pats Tage schon gezählt sind.
„Das muss ich nicht spielen. Das bin ich.“
Pat Pitsenbarger hat wirklich gelebt – und zwar tatsächlich in Sandusky. Der Friseur war der erste offen schwule Mann, den Regisseur Todd Stephens kennenlernte – und mit „Swan Song“ setzt er seinem um einiges älteren Freund nun ein Denkmal. Und was für eins, denn schließlich wird Pitsenbarger von keinem Geringeren als Udo Kier gespielt. Der deutsche Schauspieler, der heute im kalifornischen Palm Springs lebt, trägt den Film – und trägt dabei in keinem Moment zu dick auf. Nicht einmal in der Anfangs-Traumszene, in der er mit einem Kunstfellmantel à la Liberace auf eine Bühne tritt und sein Comeback ankündigt. Den zum Camp, zu effeminierten Gesten und „bitchy“ Sprüchen neigenden Pat verkörpert der Hauptdarsteller mit hinreißender Würde und Einfühlung. Kier, der für die Rolle bereits mehrere Preise gewonnen hat, erklärte im „GQ Magazin“ allerdings, dass er Lars von Triers Credo „Don’t act“ längst verinnerlicht habe – und so seien die Auszeichnungen für ihn „eigenartig. Weil ich bei Pat gar nicht gespielt habe. (…) Da tanze ich mit einem beleuchteten Kronleuchter auf meinem Kopf auf einer Bühne. Das muss ich nicht spielen. Das bin ich.“
Um Kier herum versammelt sich eine makellose Besetzung bis in die kleinsten Rollen. Jennifer Coolidge spielt Dee Dee Dale, die bauernschlaue Durchschnittsfriseuse, die sich einst Pats Salon mitsamt Kundschaft unter die buntlackierten Nägel riss. Überzeugend auch Linda Evans, die als sanftmütige Krystle Carrington im „Denver Clan“ Fernsehgeschichte mitschrieb. Evans gibt Rita, die in einer kurzen, aber wichtigen Szene aus dem Jenseits zurückkommt, um Pat zu erklären, warum sie damals nicht zu Davids Beerdigung erschien.
Kein innerer Kern
„Swan Song“ ist nicht der erste Film, mit dem sich Stephens seiner Heimatstadt im Mittleren Westen der USA widmet. Zählt man sein erstes verfilmtes Drehbuch, „Edge of Seventeen“ (1998, Regie: David Moreton) dazu, sowie sein Regiedebüt „Gypsy 83“ (2001), in dem sich zwei Gothic-Fans aus Sandusky zu einem Stevie-Nicks-Konzert nach New York aufmachen, ergibt sich eine lose Trilogie, die der Regisseur nun mit seinem Pitsenbarger-Biopic abrunden wollte, das der Filmemacher mit einer Crowdfunding-Aktion finanzierte.
Leider ist „Swan Song“ aber doch weit entfernt davon, rundum gelungen zu sein. Stephens, der auch das Drehbuch schrieb, erzählt eine mit Details (und verzichtbaren Rückblenden) überfrachtete, mäandernde Geschichte ohne einen inneren Kern, der die Story zwingend erscheinen ließe. In Momenten, in denen sich eine starke Motivation andeutet, versagt Stephens, weil er die angedeuteten Konflikte und Problematiken nicht ausgestalten kann, zum Beispiel Pats Betrachtung zweier junger schwuler Väter, die mit ihren Kindern spielen. Oder seine Begegnung mit einem jungen queeren Barkeeper, der sich mehr für sein Handy und seine Dating-App interessiert als für die Lebensgeschichte des alten Mannes. Die Kluft zwischen queeren Generationen wäre ein Thema, dem man nachspüren könnte – dem man aber auch das entsprechende Gewicht geben müsste.
Udo Kier ist das Hauptargument, sich den Film anzusehen
Eigenartig mutet aber vor allem an, dass Stephens das Thema Homophobie völlig ausklammert, als wären Ausgrenzung und Gewalt gegen queere Menschen im heutigen Amerika kein Thema mehr. Und wie kann es sein, dass der Film zwar in die Zeit der Reagan-Ära zurückblendet, die damalige Ignoranz und Kaltherzigkeit gegenüber den Opfern aber mit keinem Wort erwähnt wird? Darf ein queerer Film heute so unpolitisch sein?
Unterm Strich liefert die Leistung von Udo Kier das Hauptargument, warum man sich „Swan Song“ ansehen sollte. Sein vielleicht schönster Moment: Wenn Pat im Elektro-Rollstuhl, mitten auf der Fahrbahn und erhobenen Hauptes, den Autoverkehr behindert. Hupen zwecklos. Denn auf diesem fahrenden Thron ist der Mann unterwegs, den sie in Sandusky einmal den „Liberace der Coiffeure“ nannten.