Die Bretter der Opernbühne sind ein hartes Tanzpflaster. Nur wenige, die sich bereits im Kindesalter dem Drill einer Ballettausbildung unterwerfen, stehen als Erwachsene tatsächlich auch auf der Bühne. Noch weniger avancieren zur Primaballerina, die in einem Stück als Solotänzerin die Hauptrolle innehat. Das aber hat Giulia Tonelli erreicht. Die 1983 geborene Italienerin verbrachte ihre Kindheit in Pisa und wurde an der Schule Balletto di Toscana und an der Ballettakademie der Wiener Staatsoper zur Tänzerin ausgebildet. Bevor sie 2010 als Solistin ans Ballett Zürich kam, tanzte sie im Ensemble der Wiener Staatsoper und im Königlichen Ballett von Flandern. 2018 wurde sie in Zürich zur ersten Solistin befördert. Im gleichen Jahr zeichnete das Dance-Europe-Festival sie für ihre Darstellung von Gretchen in „Faust“ nach einer Choreografie von Edward Clug mit dem Preis für eine „Outstanding performance by a female dancer of the year“ aus. Im Dezember 2018 kam ihr Sohn Jacopo zur Welt.
„Becoming Giulia“ beginnt mit einer Reihe kurzer, rot eingefärbter Ausschnitte eines Bühnenstücks, die zwischen die Titel eingeblendet werden. Sie zeigen Tonelli als Tänzerin mit einem Baby in den Armen. Zunächst sitzt sie mit dem Kind auf einem Stuhl, legt es anschließend vorsichtig auf den Boden. Dann öffnet sie eine Tür, die auf die Bühne des leeren Zürcher Opernhauses führt, und beginnt zu tanzen. Die roten Sequenzen stammen aus dem Stück „The Scarlet Letter“, das Tonelli gegen Ende des Films zusammen mit der Tänzerin und Choreografin Cathy Marston erarbeitet. Sie zeigen die Verbundenheit einer Mutter mit ihrem Kind, aber auch den Moment, in dem sie dieses loslässt und in eine andere Welt eintritt, in die das Kind sie nicht begleiten kann.
Die zwei Welten einer Primaballerina
Der Vorspann nimmt somit kommentarlos vorweg, wovon „Becoming Giulia“ handelt: den zwei Welten, mit denen sich eine Frau, die Mutter geworden ist, plötzlich konfrontiert sieht, und den Durchgängen, die sie zwischen beiden Sphären schaffen muss. Die Britin Cathy Marston ist selbst zweifache Mutter; in der Saison 2023/24 hat sie in der Nachfolge von Christian Spuck die künstlerische Leitung des Ballett Zürich übernommen.
„Becoming Giulia“ setzt im Frühjahr 2019 ein, als Tonelli drei Monate nach der Geburt ihres Sohnes das Training mit der Ballettkompanie wieder aufnimmt. Elf Monate zuvor hatte sie ausgesetzt. Bei der Rückkehr wird sie mit warmem Applaus begrüßt. Noch nie, sagt sie dann, sei sie so lange von der Bühne weggewesen. In diesen Monaten habe sie das Tanzen, die Kompanie, das Knarren der Bühnenbretter, den Geruch in den Gängen und Räumen des Opernhauses, vor allem aber ihre eigene Identität als Tänzerin schmerzlich vermisst. Und dies, obwohl Jacopo ein Wunschkind ist, Tonelli durch ihn viel Neues erlebt und er ihr zu einer Kraft verhilft, die sie davor nie verspürt hat.
Giulia Tonelli redet sehr offen über das, was sie fühlt, was sie will und was für sie wichtig ist. Die Rückkehr in die Kompanie, ans Opernhaus und auf die Bühne fühlt sich für sie wie ein Nachhausekommen an. Vier Monate nach Jacopos Geburt steht sie bei der Premiere der Wiederaufnahme von Christian Spucks „Romeo und Julia“ als Julia bereits wieder auf der Bühne. Die Vorstellung, in der Alexander Jones den Romeo tanzt, wird mit Standing Ovations gefeiert. Mitten im Publikum sitzen auch Tonellis Eltern und ihr Lebenspartner Bernhard Auchmann.
Vater, Sohn & eine Künstlerin
Tatsächlich hat Giulia Tonelli hat aber noch ein anderes Zuhause, das in „Becoming Giulia“ ebenso oft zu sehen ist wie die Welt am Opernhaus: die Wohnung in der Zürcher Innenstadt, in der sie mit Auchmann und Jacopo lebt. Hier ist sie Mutter und Lebenspartnerin. Kocht, putzt, räumt auf und kümmert sich um ihr Söhnchen. Später, als Jacopo etwas größer ist, spielt sie mit ihm. Manchmal sitzen Giulia und Bernhard zuhause zusammen und diskutieren. Oft über Kinderfragen. Manchmal aber auch über Giulias Arbeit. Über den Stress, den sie bisweilen hat, die Unsicherheit, welche sie befällt, wenn sie mit Anweisungen eines Choreografen oder des Ballettmeisters nicht zurechtkommt.
Auchmann ist in die Betreuung von Jacopo miteingebunden. Auch Giulias italienische Eltern sind öfters zu Besuch und unterstützen die junge Familie. Nach der Pandemie bekommen sie Besuch von Cathy Marston und ihrem Lebenspartner. Tonelli und Marston haben den Kontakt zueinander aktiv gesucht. Was sie jenseits von Tanzkarriere und Mutterschaft verbindet, ist das Gefühl, dass es (nicht nur) für Frauen Zeit ist für andere Stücke als Klassiker wie „Faust“, „Romeo und Julia“ oder Rollen wie Prinzessinnen und im Bann von Männern stehende Geliebte.
Die Pandemie, die auch Tänzer und Tänzerinnen in die eigenen vier Wände zwingt, ist der zweite Moment, der sich auf Tonellis Karriere verändernd auswirkt. Wo sie zu Beginn des Films noch die Hoffnung äußerte, dass Jacopo sie noch auf der Bühne tanzen sehe und als Tänzerin in Erinnerung behält, beginnt sie in der erzwungenen Pause darüber nachzudenken, wo und wie ihr Weg weiterführen könnte. Sie möchte verstärkt Richtung Schauspiel gehen, Rollen mitgestalten, kreativer werden, sich vielleicht sogar an eine Choreografie wagen. Marston, die ihrerseits den Weg vom Tanz zur Choreografie und Ballettleitung gegangen ist, reicht ihr dazu die Hand, noch bevor sie ihre Stelle in Zürich offiziell angetreten hat.
Mitten im Geschehen
„Becoming Giulia“ kommt ohne externe Kommentare, Interviews oder erzählende Instanzen aus. Was man als Zuschauer erfährt, stammt aus Gesprächen, die Tonelli mit Mitgliedern des Ensembles, den Mitarbeitenden des Opernhauses oder mit ihrem Physiotherapeuten in Gängen, Korridoren, der Garderobe, im Ballettsaal oder vor dem Auftritt hinter dem Vorhang führt. Es sind situationsbezogene Gespräche. Kurz in Worte gefasste Gedanken zu Themen, die in der Luft liegen oder sie beschäftigen; vieles erscheint im Film wie zufällig aufgeschnappt.
Die Kamera folgt der Protagonistin über lange Strecken nahezu intuitiv. Sie geht mit ihr mit, begleitet sie auch im Tanz, löst sich manchmal von ihr und übernimmt manchmal auch Tonellis Blick. Frederick Wiseman hat in „La danse“ (2009) über das Ballet de l’Opéra de Paris Ähnliches versucht, ohne dabei aber so weit ins Private vorzudringen wie Laura Kaehr in ihrem Film.
Der Grund dafür liegt wohl bei Kaehr. Sie war, bevor sie sich zur Filmemacherin ausbilden ließ, selber professionelle Balletttänzerin und tanzte unter anderem auch am Opernhaus Zürich. Vor den Dreharbeiten kannte die Filmemacherin Giulia Tonelli nicht näher. Aber sie war mit dem Opernhaus Zürich und dessen Räumen vertraut sowie mit den verschiedenen Tanzfiguren. So konnte sie bei den Dreharbeiten vorhersehen, in welche Richtung sich eine Bewegung entwickelt oder wohin sie sich als Regisseurin bewegen muss. Sie ermunterte die Kameramänner Felix von Muralt und Stéphane Kuthy, es ihr gleichzutun. So kommt es, dass die Kamera in „Becoming Giulia“ nicht nur mit der Protagonistin mittanzt, sondern zwischendurch eigenständig zu schweben beginnt und sich manchmal kurz auch auf Erkundungstour begibt.
Laura Kaehr begleitet Giulia Tonelli über drei Jahre. Sie fängt dabei nicht ihre Entwicklung als Tänzerin ein, sondern auch die ihres Sohnes. Der wächst in dieser Zeit vom Baby zum Kleinkind heran und ist gegen Ende des Films derart stramm auf den Beinen, dass er bei einem Training sogar mit den Tanzenden mitzuhalten versucht.
Die Strahlen des Erfolgs
„Becoming Giulia“ fokussiert ganz auf die Protagonistin und ihre Situation, streift aber auch universellere Themen. Eines ist neben der Vereinbarkeit von (Tänzerinnen-)Karriere und Mutterschaft die Frage nach dem körperlichen Verschleiß und der psychischen Belastung, die den Beruf von Tänzer:innen prägen. Eine andere sind die hierarchischen Strukturen, die in Opernhäusern (und Ballettkompanien) herrschen, und die Tatsache, dass wer gemeinsam auf der Bühne steht, oft nicht nur Partner, sondern auch Konkurrent ist. Deshalb sitzt man zum Schluss von „Becoming Giulia“ berührt, aber auch etwas irritiert im Kinosessel. Man ahnt, wie außergewöhnlich ein Auftritt von Giulia Tonelli sein muss, auch wenn man einen solchen im Film nicht zu sehen bekommt. Und da dieser Teil des Triumphes und der Freude an der Arbeit im Film weitgehend ausgeblendet bleibt – man sieht das Strahlen auf Tonellis Gesicht am Ende einer Vorstellung lediglich ein einziges Mal – ist es letztlich nur bedingt nachvollziehbar, wieso die Tänzerin diesen K(r)ampf auf sich nimmt.