Der Schriftsteller Marcel Bellmer (Benoît Poelvoorde) kauft seiner Tochter Lucie (Janaina Halloy) einen großen weißen Hund. Gerade erst ist die Familie in ein Schloss mit gigantischem Anwesen gezogen. Vor seinem Tod wohnte hier der Vater von Marcels Frau Jeanne (Mélanie Doutey): ein reicher Verleger, der auch die Bestseller seines Schwiegersohns herausbrachte. Und weil Lucie an ihrem neuen, von endlosen Wäldern umgebenen Wohnort noch keine Freunde hat, bekommt sie eben ein zutrauliches Tier.
Der Hund bleibt in „Eiskalter Engel“ allerdings nicht der einzige Neuzugang auf dem Anwesen. Scheinbar zufällig lernt die schweigsame Kindfrau Gloria (Alba Gaïa Bellugi) die Familie kennen und versteht sich auf Anhieb gut mit Lucie. Etwas übereifrig lassen Marcel und Jeanne darauf die junge Frau bei sich wohnen. Ihre Großzügigkeit hat dabei auch etwas Forderndes. Wie der Vierbeiner ist auch Gloria ein bequemes Mittel, um die Einsamkeit der Tochter zu bekämpfen.
Ein Eindringling, der alte Wunden aufreißt
Wir wissen zu diesem Zeitpunkt bereits, dass das alles Teil einer List ist. Gloria hat zuvor bereits mit einer Intrige die Haushälterin entsorgt und sich selbst verletzt, um mit einer erfundenen Geschichte Mitleid zu erheischen. Marcel gegenüber beteuert sie nicht nur, sämtliche seiner Romane gelesen zu haben, sondern wirft ihm auch herausfordernde Blicke zu. Was genau ihr Geheimnis ist, ahnt man schon früh. Zumindest auf der Handlungsebene ist „Eiskalter Engel“ ein klassischer Thriller über einen Eindringling, der alte Wunden aufreißt und den familiären Zusammenhalt gefährdet.
Regisseur Fabrice Du Welz hat es allerdings weder auf Spannungsmomente noch auf überraschende Wendungen abgesehen. „Inexorable“, also erbarmungslos oder auch unaufhaltsam, heißt nicht nur Marcels Erfolgsroman, dessen Inhalt abgesehen von einigen Zitaten ein Geheimnis bleibt, sondern auch der Film im französischen Original. Es ist ein Abstieg mit Ansage. Immer weiter bröckelt die nur vermeintliche Idylle und legt dunkle Geheimnisse, Kaltblütigkeit und Perversion frei.
Ein dunkles Erbe
Unter anderem geht es um Männer, die sich aus der Verantwortung stehlen und Frauen mit gebrochenem Herzen zurücklassen. Über dem Kamin thront das Gemälde einer Vorfahrin, die für die Taten ihres Liebhabers leiden musste. Es geht dabei auch um die Verstrickungen zwischen belgischem Adel und den Nazis und damit indirekt auch um das dunkle Erbe, auf dem der Wohlstand von Marcel und Jeanne basiert. Das Verdrängte scheint in „Eiskalter Engel“ immer präsent zu sein. Eine entscheidende Rolle spielt etwa eine verschlossene Schublade mit einem Bündel geheimnisvoller Briefe.
Zunehmend beginnt auch Marcels männliches Selbstverständnis zu schwinden. Als Jeanne ihn verführen will, bringt ihre Dominanz ihn derart in Bedrängnis, dass er keine Erektion bekommt. Wenn er seine Frau später dagegen demütigt, auf den Schreibtisch drückt und als Schlampe beschimpft, hat er dieses Problem nicht. In jedem schlummert hier eine unberechenbare und zerstörerische Kraft. Hinter der zivilisierten großbürgerlichen Fassade verbirgt sich etwas Wildes und Animalisches. Der Film beginnt dementsprechend mit Aufnahmen von hechelnden und bellenden Welpen. Und obwohl Jeanne glaubt, dass Lucies Hund gefährlich ist: bissig sind in „Eiskalter Engel“ nur die Menschen.
Die Saat des Bösen
Bei einem Tischgespräch wird einmal Gaston Leroux’ Kriminalroman „Das Geheimnis des gelben Zimmers“ erwähnt. Gloria wird kurz darauf tatsächlich in einem gelben Zimmer untergebracht, und so wie Leroux’ Whodunit letztlich keinen Einzeltäter entlarvt, sondern alles auf eine Verkettung unglücklicher Zufälle zurückführt, konzentriert sich auch die Bedrohung im Film nicht nur auf Gloria. Das Mädchen wirkt letztlich zu verwundbar und überwältigt von seinen Obsessionen, um als Täterin zu gelten. Und so ungeeignet sie als Bösewicht ist, so wenig taugt im Gegenzug die voneinander entfremdete Familie als Refugium des Guten. Vielmehr liegt schon in der menschlichen Natur die Saat des Bösen, und ungesühnte Sünden lassen sie sprießen.