I Have Electric Dreams
Coming-of-Age-Film | Costa Rica/Belgien/Frankreich 2022 | 102 Minuten
Regie: Valentina Maurel
Filmdaten
- Originaltitel
- TENGO SUEÑOS ELÉCTRICOS
- Produktionsland
- Costa Rica/Belgien/Frankreich
- Produktionsjahr
- 2022
- Produktionsfirma
- Wrong Men/Geko Films/Tres Tigres
- Regie
- Valentina Maurel
- Buch
- Valentina Maurel
- Kamera
- Nicolás Wong Diaz
- Schnitt
- Bertrand Conard
- Darsteller
- Reinaldo Amien Gutiérrez (Martin) · Daniela Marín Navarro (Eva) · José Pablo Segreda Johanning (Palomo / Dove) · Vivian Rodríguez (Anca) · Adriana Castro García (Sol)
- Länge
- 102 Minuten
- Kinostart
- -
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Genre
- Coming-of-Age-Film | Drama
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Packendes Drama über eine Jugendliche aus Costa Rica, ihr erwachendes sexuelles Begehren und das schwierige Verhältnis zu ihrer Familie, insbesondere zum Vater.
Ein Biest ist ausgebrochen. In der Dunkelheit einer Jahrmarkt-Zaubershow zeigt sich eine leicht bekleidete Frau hinter Gitterstäben dem Publikum. Schnitt. Statt der Frau rüttelt nun ein Gorilla an den Stäben, bis er durchbricht und auf die Menschenmenge losgeht. Chaos bricht aus. Alle rennen durcheinander – außer der sechszehnjährigen Eva (Daniela Marín Navarro). Sie steht dem Biest ruhig gegenüber und küsst es. Schnitt. Anstelle des Biestes knutscht Eva nun mit einem Mann im Club und beißt ihn.
Der Traum der wilden Tiere
Das Wilde und Unbändige, der Wolf im Menschen – diese Motive geistern durch das Langfilmdebüt von Valentina Maurel. Die Protagonistin erzählt wiederholt von ihren „elektrischen Träumen“, in denen sie wilde Tiere von Menschlichkeit träumen sieht. Diese Träume sind in der Wirklichkeit verankert. Eva beißt nicht nur Jungs, sondern zieht auch ihre jüngere Schwester an den Haaren. Auch in ihrem sozialen Umfeld gehören Gewaltausbrüche zum Alltag.
Vor allem aus Evas Vater Martín (Reinaldo Amien Gutiérrez) bricht immer wieder die Wut heraus. Gleich in der ersten Szene, als die Familie mit dem Auto in die Einfahrt fährt, schlägt er seinen Kopf gegen das Garagentor. Er blutet. Evas Eltern leben schon seit Längerem getrennt. Mit dem Stiefvater renoviert Evas Mutter das Haus. Sie räumt knallhart aus, schmeißt Erinnerungsstücke von Eva weg und möchte am liebsten auch die pinkelnde Katze loswerden, was Eva wahnsinnig wütend macht.
Eva rebelliert, indem sie sich zu ihrem Vater Martín davonschleicht, raucht, trinkt, Drogen nimmt und mit einem Freund von Martín schläft. Das Ganze passiert in einer Nacht, während der Vater einen Poetik-Workshop in seiner Wohnung veranstaltet.
Körperkino und Sozialrealismus
Anhand der Sexszene – und ihres Nachhalls – zeigt sich die Stärke der Inszenierung: die Berührungen zwischen dem wesentlich älteren Mann und dem jugendlichen Mädchen sind teils vorsichtig, teils ruckartig. Eva wendet sich ab, dann wieder zu. Man merkt, wie sehr die junge Frau mit ihrer Lust und ihrer Angst gleichzeitig zu kämpfen hat.
Die Art, wie die Ambivalenz der Körperbewegungen mit der Handkamera gefilmt wird, erinnert stark an das Körperkino von Claire Denis. Zu den Vorbildern zählt Valentina Maurel außerdem Lucrecia Martel, deren Film „La niña santa“ ebenfalls das Heranreifen eines Mädchens inmitten einer patriarchalen Gesellschaft thematisiert. Beide Filme zeigen weibliches sexuelles Erwachen, das mit männlicher Überheblichkeit und Übergriffigkeit kollidiert, was neue negative Energie freisetzt.
Eva reagiert genervt auf ihre Mutter mit ihrer Spießbürgerlichkeit. Ihren Vater provoziert sie mit seinem lächerlichen Machismo. Die Konflikte eskalieren nicht nur im Häuslichen, sondern auch auf den Straßen von San José. Rasende Autofahrer schreien die Familie beim Überholen an, hinter ein paar Stadtmusikanten prügeln sich Jugendliche. „I Have Electric Dreams“ verortet die konkrete Familiengeschichte innerhalb der angespannten Dynamik des Landes, auch wenn es bei Andeutungen bleibt.
Drei Preise in Locarno
„I Have Electric Dreams“ wurde 2022 in Locarno mit gleich drei Preisen geehrt. Den Regiepreis gab es auch dafür, wie Valentina Maurel Alltagskonflikte einfängt. Die Kamera von Nicolás Wong Díaz fokussiert häufig den stummen und intensiven Blick der Hauptdarstellerin Daniela Marín Navarro. Sie und Reinaldo Amien Gutiérrez wurden als beste Darsteller ausgezeichnet. Die Vater-Tochter-Beziehung ist der Kern des Films. Eva will immer wieder zu ihrem Vater ziehen, der erfahren muss, dass er an Lungenkrebs leidet. Sie hilft ihm bei der Wohnungssuche. Sie verbringt viel Zeit mit ihm, auch wenn sie streiten.
Man sieht Eva nie in der Schule oder bei Freizeitaktivitäten. Meistens hängt sie mit ihrer Familie oder Freunden herum. Sind es Sommerferien? Oder fehlt ihr eine andere Perspektive? Man muss die Fixierung auf die Vaterfigur nicht gleich psychoanalytisch mit einem Elektra-Komplex erklären. Eva wirkt eher verloren und orientierungslos. Mit hängenden Schultern und ausdruckslosem Gesicht scheint sie den Alltag von sich abprallen zu lassen – so lange, bis das Animalische wieder aus ihr herausbricht. Irgendwann dämmert es Vater und Tochter, wie (selbst-)zerstörerisch ihr Verhalten ist. Möglicherweise ist der Traum von der Menschlichkeit zum Greifen nahe.