Mutter (2022)
Dokumentarfilm | Deutschland 2022 | 88 Minuten
Regie: Carolin Schmitz
Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 2022
- Produktionsfirma
- Sutor Kolonko/WDR
- Regie
- Carolin Schmitz
- Buch
- Carolin Schmitz
- Kamera
- Reinhold Vorschneider
- Schnitt
- Stefan Oliveira-Pita · Annett Kiener
- Darsteller
- Anke Engelke (Die Frauen)
- Länge
- 88 Minuten
- Kinostart
- 29.09.2022
- Fsk
- ab 0; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 14.
- Genre
- Dokumentarfilm
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Heimkino
Acht unsichtbare Frauen sprechen in einem Filmexperiment über Mutterschaft, wobei ihnen Anke Engelke lippensynchron ein und dasselbe Gesicht leiht.
Es gibt nichts Abgründiges zum Thema Mutterschaft, das in Filmen nicht schon vielfach ausgeleuchtet worden wäre: Von der ungewollten oder gar Horror-Schwangerschaft („Rosemarys Baby“, „4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage“, „Adam“ oder „Das Ereignis“) über Inzest („Ma Mère“, „Savage Grace“) bis hin zum Schock, ein Amok laufendes Pubertier großgezogen zu haben („We need to talk about Kevin“), bietet Mutterschaft den Vorteil, alle nur erdenklichen Nuancen von Schuld, Angst, Selbsthass und Selbstermächtigung erzählbar zu machen. Der Mutter als Extremfigur und ambivalente Heldin schlechthin, vergleichbar vielleicht nur dem Soldaten, werden filmkünstlerisch alle möglichen Alltagskämpfe aufgebürdet, in denen sich das Individuum behaupten muss.
Da wirkt es schon tollkühn, einen Film einfach nur „Mutter“ zu nennen. Das klingt nach finaler Totalität und Unbestimmtheit zugleich. Oder nach einem letzten Seufzer. Doch die Dokumentarfilmerin Carolin Schmitz, die schon in „Portraits deutscher Alkoholiker“ und „Schönheit“ Alltags(un)sichtbarkeiten aus der Mitte der Gesellschaft herauspräparierte, erteilt auch mit „Mutter“ dem eingeübten Wunsch nach sozialpornografischen Schauwerten, Mitgefühl oder Schauder eine Absage.
Acht Monologe zu einer einzigen Figur vereint
Und zwar mit einem höchst amüsanten, konzeptkünstlerischen Zugriff. Dokumentarisch aufgezeichnete Monologe von acht Frauen zwischen 30 und 75, die auf der Tonspur hörbar sind, vereint die Regisseurin in einer einzigen fiktiven Figur. Anke Engelke, die in jeder Einstellung zu sehen ist, bewegt zu den Originalsätzen ihre Lippen, verleiht also den unterschiedlichen Stimmen ihr Gesicht. Diese Kollektivmutter ist im Film eine Schauspielerin. Mal spricht sie aus dem Off, mal im On beim einsamen Bügeln, Baden oder Kaninchenstreicheln, beim Geschminktwerden in der Theatergarderobe und in der Waschstraße; sie redet über Intimstes aber auch in aller Öffentlichkeit, im Supermarkt, im Theaterfoyer. Selten blickt Engelke dabei in die Kamera; sie redet eher vor sich hin, erzählt wie ein von fränkischer Sprachfärbung oder einem leichten S-Fehler befallenes Medium in abgeklärtem, unaufgeregtem Ton von Trennungen, ungeplanten oder ersehnten Schwangerschaften und dem genervten Wunsch, das renitente Kind in ein Heim zu geben.
Spätestens als sie die bodentiefen Fenster ihrer großzügigen Wohnung putzt, wird die tonale Verwandtschaft zur Schriftstellerin Anke Stelling ersichtlich, von der der Roman „Bodentiefe Fenster“ stammt und die am Drehbuch mitarbeitete. Auch Stelling benutzt real geäußerte Sätze lakonisch als Baumaterial. Echtheit und Fiktionalität sind bei ihr fragwürdig gewordene Kategorien, in deren Namen und oft in bester Absicht nur die alten Klassenunterschiede fortgeschrieben werden: „Echte Literatur hat Personal“, schreibt sie in ihrem Buch „Schäfchen im Trockenen“: „Leute, die sich dafür hergeben, erzählt zu werden.“
„Mutter“ ist ein Wort, das andere nach sich zieht
Das Personal hat sich bei Carolin Schmitz vornehm aus dem Staub gemacht. Es lässt stattdessen Anke Engelke für sich arbeiten. Für die punktgenau ausbalancierte Bildgestaltung von Reinhold Vorschneider – gedreht wurde „an Originalschauplätzen in Köln, Bergisch Gladbach, Rüsselsheim und Wiesbaden“ – scheint die bürgerliche Wohnung der „Mutter“ in ihrer gepflegten Leere und Düsternis wie bestmöglich erfunden. ,Mutter‘ ist in diesem Filmexperiment kein Individuum, das zur Identifizierung oder Abgrenzung einlädt. Es ist zuallererst ein Wort, das weitere nach sich zieht, immer wieder in Stille mündet und aufs Neue mit einem „Und dann“ ansetzt, ohne dass diese Lebensgeschichte befriedigend zu Ende gesponnen würde.
Es entsteht eine absurde Kreisbewegung, ein Käfig aus Worten, in dem sich auch jede andere Mutter befinden könnte. Zum Käfig werden die Sätze schon technisch, zwingen sie doch die reale Schauspielerin Anke Engelke dazu, sich keine Abweichung von der Lippensynchronizität zu erlauben. Drei Monate, heißt es, habe Engelke die Texte auswendig gelernt, mit sämtlichen unberechenbaren Atemzügen, Vernuschelungen, Dialekt-Einfärbungen und erratischen Satz-Abbrüchen. Diese virtuose Anstrengung strahlt in einer Art Rückkopplung gleichzeitig auf die Original-Sprecherinnen ab, deren Leitthema indirekt ebenfalls die Frage nach erlaubten oder möglichen Abweichungen von Vorgaben ist.
Das Sich-Äußern macht nicht sichtbar
Doch anders als in auf Authentizität ausgerichteten Dokumentarfilmen garantiert dieses Sich-Äußern kein Sichtbarwerden und auch keine Befreiung der einzelnen Person. Die so inszenierten Frauen drücken weniger sich selbst aus, als dass sie offenbaren, in die Sprachschablonen ihrer Zeit hineingedrückt zu sein. „Mutter“ ist ein Geisterfilm, eine Art Limbus, in den Frauen sich begeben haben oder in den sie geraten sind, indem sie Mütter wurden. Sie sind weder wirklich da noch fort.
Ähnlich wie in „Manifesto“ von Julian Rosefeldt, in dem Cate Blanchett in unterschiedlichen Rollen unterschiedliche Manifeste (männlicher) Autoren spricht und performt, allerdings mit ihrer eigenen, unheimlich veränderlichen Stimme, entsteht zwischen Text und Situation immer wieder eine Reibung aus der Gleichzeitigkeit von Kongruenz und Kontrast. Dass Engelkes namenlose Schauspielerin ihre Texte mal als Selbstkundgaben erscheinen lässt, dann aber wieder – als Rollentext – aus dem Textbuch für die Bühne einstudiert, ist mehr als eine Spielerei mit den Realitätsebenen. Die Theater-Metapher zeigt vielmehr, dass das Thema Mutterschaft wie kaum ein anderes im Rampenlicht gesellschaftlicher Diskurse steht – und gleichzeitig im Verborgenen stattfindet.
Eine Bitte ans Leben
„Und dann“ implodiert die ganze Komplexität zu einer sehr simplen Lebenszwischenbilanz mit Ende 20, an die sich die Bühnen-„Mutter“ erinnert: „Du möchst’n Mann, der dich liebt, und du möchst’n Kind. Wenigstens eins.“ So einfach ist das, eigentlich, und doch wiegt unaushaltbar schwer, was in diesem Statement liegt: erinnerte Entschlusskraft, abgelöst von der Bereitschaft, sich abzufinden. Und, sehr leise herauszuhören und an Engelkes Gesicht abzulesen, eine Bitte ans Leben.