Oh Hell
Komödie | Deutschland 2022 | 200 (Staffel 1, 8 Folgen) Minuten
Regie: Lisa Miller
Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 2022
- Produktionsfirma
- good friends Filmproduktion
- Regie
- Lisa Miller · Simon Ostermann · Sarah Blaßkiewitz
- Buch
- Johannes Boss
- Kamera
- Claire Jahn · Katharina Bühler · Anne Bolick
- Musik
- Felix Raffel · Daniel Strohhäcker · Warner Poland
- Schnitt
- Ramin Sabeti · Thomas Wedekind · Kaspar Panizza
- Darsteller
- Mala Emde (Helene) · Edin Hasanovic (Oskar) · Knut Berger (Günther) · Salka Weber (Maike) · Madieu Ulbrich (Jason)
- Länge
- 200 (Staffel 1, 8 Folgen) Minuten
- Kinostart
- -
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 14.
- Genre
- Komödie | Serie
Deutsche Sitcom mit Mala Emde als 24-jährige Antiheldin, deren Leben das genaue Gegenteil selbstoptimierter und Instagram-tauglicher Perfektion ist.
Staffel 1
Gleich in der ersten Episode fackelt Helene alias Hell (Mala Emde) ein ganzes Wäldchen ab. Nicht aus Absicht, muss man ihr zugutehalten, sondern wegen einer achtlos weggeworfenen Kippe, während Hell – wie so oft – mit dem Kopf woanders war. Mit der Realität im Hier und Jetzt hat die 24-Jährige so ihre Probleme. Was sich immer wieder rächt: Hell ist groß im „Verkacken“, wie sie in einem ihrer Off-Monologe sagt. Mit dem Jurastudium hat es nicht geklappt, und auch den Job in einer Kita, mit dem sie sich am Beginn der Sitcom von Autor Johannes Boss über Wasser hält, ist sie bald wieder los. In dem Call Center, in dem sie danach anheuert (und auch bald wieder gefeuert wird), wird ihre Vorgesetzte ihr sagen, dass das, was Helene am Telefon verzapft, sich eher nach Moderner Kunst als nach einem Verkaufsgespräch anhört.
Spezialistin im Verkacken und Vertuschen
Kurzum: Wenn es statt Instagram eine „Losergram“-Plattform gäbe, wäre das, wie Hell in einem weiteren Monolog mitteilt, genau ihr Ding. Da dem nicht so ist, versucht sie, sich im Zeitalter der Selbstoptimierer, Start-Upper und Social-Media-Selbstdarsteller irgendwie durchzumogeln. Bevorzugt durch Lügen. Die acht Episoden folgen Helene durch einen irrwitzigen Parcours von Verkacken, Vertuschen und Versuchen, auf ihre konfuse Weise doch ein bisschen glücklich zu werden. Das Ergebnis ist eine Serie, deren hinreißend schräge, widersprüchliche Heldin und schwarzhumoriger Charme an britische Vorbilder wie „Fleabag“ oder „Pure“ denken lassen; bei Exkursen in Hells nimmermüde Imagination fühlt man sich zudem an die Kultserie „Scrubs“ erinnert.
Johannes Boss, Autor von „Jerks“, war zuletzt mit „KBV - Keine besonderen Vorkommnisse“ und „Deadlines“ auf der brachial-kalauernden Seite der Comedy unterwegs; mit „Oh Hell“ gelingt ihm dagegen wieder ein Glanzstück. Zwar ist auch hier der Humor schon mal gerne derb, doch bei aller Lust an schrägen Pointen und karikierenden Zuspitzungen behalten Drehbuch, Inszenierung und Darsteller immer einen Sensus für den verletzlich-menschlichen Kern der Figuren.
Lügenmärchen und echte Gefühle
Im Zentrum stehen Hells Beziehungen zu einer Handvoll ihr nahestehender Menschen. Zum Beispiel zu ihrer Kindheitsfreundin Maike (Salka Weber), zu der Hell ein gespaltenes Verhältnis hat: Einerseits ist da eine lang gewachsene Verbundenheit; andererseits ist Maike, die als Influencerin erfolgreich ist und ein unerträglich musterhaftes Leben führt, für Hell ein rotes Tuch, das sie nervt, das sie gleichzeitig aber auch beneidet. Später in der Serie wird Oskar, eine weitere für Hell wichtige Bezugsperson, über Maike treffend sagen, dass sie und ihr Freund wirken, als hätten sie eine Liste, wie man im 21. Jahrhundert alles richtig macht, und würden diese nun brav abarbeiten. Die aufschneiderischen Lügengeschichten, die Hell der Freundin ständig auftischt, flirren zwischen Notwehr, um neben Mrs. Perfect nicht nackt dazustehen, und ironischer Veräppelung von deren eigener Influencer-Poserei.
Ganz anders die Lügen, die Hell ihrem Vater (Knut Berger) erzählt: Die sind vor allem eine zärtliche Schutzmaßnahme, um den Mann, der seit der Scheidung von Hells Mutter aus der Spur ist, vor dem Chaos im Leben seiner Tochter abzuschirmen. Er ahnt denn auch nicht, dass sein „Helenchen“ das Studium abgebrochen hat, und bekommt gleich in der ersten Folge das Märchen serviert, sie hätte ihr Jura-Examen bestanden. Was einen Rattenschwanz weiterer Lügen nach sich zieht, die für urkomische Verwicklungen sorgen, zugleich aber auch etwas sehr Rührendes haben, weil Mala Emde fein das Unbehagen durchblicken lässt, das Hell ihre Unehrlichkeit dem geliebten Vater gegenüber bereitet.
Eulenspiegelin fürs Instagram-Filter-Zeitalter
Interessant gezeichnet ist auch Hells Verhältnis zu Oskar (Edin Hasanovic), ihrem Love Interest: Der Cellolehrer, der von Hell als Objekt der Begierde (und schmückender Begleiter für ein Abendessen mit Maike) sozusagen zwangsrekrutiert wird und knietief in der schrägen Welt der jungen Frau drinsteckt, bevor er überhaupt weiß, wie ihm geschieht, wird zuerst ebenfalls mit einigen strategischen Lügen eingewickelt; dann aber kämpft Hells Hang zur freien Erfindung schnell mit der Sehnsucht, so geliebt zu werden, wie sie ist.
Auch wenn Johannes Boss immer wieder Rückblenden einflicht, die in Helenes Teenagerjahre zurückspulen und um ihr Sich-Abarbeiten an der Trennung der Eltern kreisen, versucht die Serie nicht wirklich, ihr gespaltenes Verhältnis zur Realität zu analysieren oder gar zu pathologisieren (wie es gegen Ende einige der Figuren aus Hells Umfeld machen). Hell, wie die Serie sie sieht, ist kein Fall für den Arzt, sondern eher eine moderne Eulenspiegelin, deren allen Mühen zum Trotz unvertuschbares Neben-der-Spur-Sein der Generation Instagram-Filter lässig den Stinkefinger zeigt.
Staffel 2
Jurastudium-Abbrecherin, chronische Lügnerin, versehentliche Brandstifterin – Helene „Hell“ Sternberg (Mala Emde) hat in der ersten Staffel der preisgekrönten Comedyserie von Johannes Boss vor allem in einem geglänzt: im „Verkacken“, wie sie selbst es ausdrückte. Aus Sicht des Publikums waren diese Dauer-Verkackerei und Helenes Versuche, sie durch ihre marodierende, verquere Fantasie zu kaschieren, freilich vor allem: eine herrliche Apologetik des Nicht-Selbstoptimierten und Nicht-Instagramtauglichen und eine anarchische Breitseite gegen den ganz normalen Irrwitz der Selbst- und Fremdansprüche, an denen sich die Generation der Mittzwanziger, die Erstgeborenen der Generation Z, ansonsten misst.
Die Durcheinanderwirblerin
In der zweiten Staffel wird Helenchen dafür nun prompt in Therapie gesteckt: Wegen des Missgeschicks mit der klimmenden Zigarette, die in der ersten Staffel ein Stück Wald und eine ganze Krötenpopulation das Leben kostete, ist die mittlerweile 25-Jährige nun dazu verdonnert worden, in einer psychiatrischen Tagesklinik sechs Wochen lang an ihrem Verhalten zu arbeiten; ansonsten müsste sie in den Knast. Man ahnt freilich früh, dass die Chancen des bedauernswerten behandelnden Arztes, Dr. Berg-Berth (Roland Bonjour), die Patientin von ihrem Neben-der-Spur-Sein zu kurieren, schlechter stehen als ihre, ihn in den Wahnsinn zu treiben. An einer Stelle wird er ihren diversen Versager-Titeln – Studienabbrecherin, Brandstifterin etc. – die Krone aufsetzen und sie als „Struktur-Querulantin“ beschreiben. Eine andere Figur nennt das freundlicher „Beautiful Chaos“. Helene „Oh Hell“, die höllische Durcheinanderwirblerin!
Woran sich in der neuen Staffel nicht zuletzt auch wieder ihre beste und älteste Freundin Maike (Salka Weber) abarbeitet, die das genaue Gegenstück zu Helene darstellt: das verkörperte Übererfüllen von gesellschaftlichen Erwartungen, ständig bestrebt, krampfhaft alles richtig zu machen. Maikes aktuelles Projekt ist ein Start-up-Unternehmen namens „Vaginality“, das sie zusammen mit ihrem Partner Jason (Madieu Ulbrich) gegründet hat. Total trendig, digital, feministisch, kosmopolitisch und woke – aber leider so verblasen, dass nicht mal Maike selbst weiß, was genau sie damit eigentlich auf die Beine stellen will. Und da kommt Helene ins Spiel: Weil der Besuch eines exzentrischen skandinavischen Tech-Gurus und potenziellen Großinvestors ansteht, muss eine möglichst originelle (App-)Idee her, die man ihm präsentieren und verkaufen kann. Und Helene, die Meisterin des „Out of the Box Thinking“, könnte da die Rettung sein. Oder doch eher der Untergang?
Sprunghaft aus Prinzip
Dramaturgisch springt die zweite Staffel etwas verwirrend zwischen dem Psychiatrie-Handlungsstrang und Helenes Abenteuer in der schönen neuen Welt des Digital-Startups hin und her – und stellt es den Zuschauer:innen anheim zu entscheiden, wo der größere Irrsinn herrscht. Zeitlich gesehen handelt es sich dabei auch um ein Springen zwischen den Zeitebenen; der Start-up-Handlungsstrang spielt etwas später und wird leise davon überschattet, dass früh angedeutet wird, wie der Psychiatrie-Handlungsstrang enden wird. Nämlich mit einer Tragödie, die mit einem von Helenes Mitpatienten, dem schweigsamen Janno (Daniel Noel Fleischmann), zusammenhängt. Und wie schon in der ersten Staffel kommen als weitere Zeitebene auch hier wieder Rückblenden in Helenes Kindheit und Jugend dazu, die sozusagen die „Fallgeschichte“ der Patientin beleuchten, wobei diesmal vor allem Helenes Verhältnis zu Maike und eine an Tücken reiche Teenager-Reise zu einem Tanz-Sommercamp in Frankreich eine Rolle spielen.
Ganz so viel dramaturgischen Drive wie die erste Staffel, in der Helene gegenüber Figuren wie Maike, ihrem Vater und ihrem Love Interest Oskar ein immer wackligeres Lügengebäude aufbaute, dessen unvermeidlichem Crash man entgegenbangen musste, entfaltet sich dabei nicht. Die erzählerische Sprunghaftigkeit hat aber durchaus Methode. Sie reflektiert Helenes gebrochene Persönlichkeit, die dankend – Helene flog über das Kuckucksnest! – darauf verzichtet, sich von anderen heilen zu lassen, um in gängige Vorstellungen von „Ganz-sein“ zu passen. Auch die neue Staffel wartet dabei mit einem wahren Feuerwerk an pfiffigen Ideen und pointierten, absurd-komischen, den Zeitgeist immer wieder zielsicher satirisch aufspießenden Dialogen auf. Und sie punktet einmal mehr mit einer Mala Emde, die im Zusammenspiel mit dem exzellenten Drehbuch dafür sorgt, dass Helenchen nie nur zum verkörperten Chaosprinzip wird, sondern eine zutiefst menschliche, liebeswerte Figur, bei der die Unsicherheiten und Verletzlichkeiten hinter ihrer kecken Fassade sich immer wieder Bahn brechen.