The Velvet Underground
Dokumentarfilm | USA 2021 | 120 Minuten
Regie: Todd Haynes
Filmdaten
- Originaltitel
- THE VELVET UNDERGROUND
- Produktionsland
- USA
- Produktionsjahr
- 2021
- Produktionsfirma
- Polygram Entertainment/Motto Pictures/Killer Films/Federal Films
- Regie
- Todd Haynes
- Buch
- Todd Haynes
- Kamera
- Edward Lachman
- Schnitt
- Affonso Gonçalves · Adam Kurnitz
- Länge
- 120 Minuten
- Kinostart
- -
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 14.
- Genre
- Dokumentarfilm | Musikdokumentation
- Externe Links
- IMDb | TMDB | JustWatch
Ein Dokumentarfilm von Todd Haynes über die legendäre Rockband, die Mitte der 1960er-Jahre im Umfeld von Andy Warhols „Factory“ berühmt wurde.
„Nico, der damalige Superstar der Warholschen Film-Factory, half der Combo als Vorsängerin, im Flower-Power-Sommer jenes Jahres die ‚Blumen des Bösen‘ (Chicago Daily News) auszustreuen. In schwarzem Leder oder dunklem Vinyl stellten sich die Musiker mit dem Rücken zum Publikum und entrissen ihren Instrumenten Akkorde von sinistrer Schönheit und paranoider Aggressivität. Reed ließ seine Gitarre in ausgeklügelten Rückkopplungen bis an die Schmerzgrenze schreien, Cales Viola warf elektrische Splitterbomben, Morrisons Bassgitarre dröhnte unheilvoll wie ein Schwarm Tiefflieger, und Maureen Tucker, erster weiblicher Drummer in einer Star-Rockband, trommelte claustrophobische Monotonie. Dazu raunte Nico beinahe entmaterialisiert; Reed näselte wie ein vom Marquis de Sade trainierter Dylan bislang unerhörte Lyrik mit frei assoziierten Metaphern, während Warhols Hauspoet Gerard Malanga die Bullenpeitsche schwang.“
Ein Poptext wie aus einem „Landser“-Heftchen, zu lesen Anfang der 1970er-Jahre im legendären „Rocklexikon“. Je nach Temperament konnte man sich nach der Lektüre entscheiden, ob das Beschriebene nun eher abschreckend oder eher verheißungsvoll einzuschätzen sei. Hatte man sich dann für letzteres entschieden und das Album schließlich in der Hand, mit Klappcover, aber nicht mehr mit abziehbarer Banane, dann wurde man von „Sunday Morning“, nun ja, kalt erwischt. Was für eine Fallhöhe zwischen martialischen Krieger-Assoziationen und dem hingehauchten, scheinbaren Zucker-Pop! Die Fotos auf dem Albumcover und viele andere Band-Fotos versprachen andere Sounds, die das Album und insbesondere der Nachfolger „White Light / White Heat“ ja in der Folge auch einlösten. Und außerdem hatte man dann auch noch ein paar Jahrzehnte Zeit, sich in die Geschichten um den Mythos von The Velvet Underground und all ihren Folgeerscheinungen und -karrieren einzuarbeiten.
Kontextualisierungen
Trotz allem blieb aber immer ein weißer Fleck, eine Leerstelle. Wer nicht zeitgenössisch dabei gewesen war, dem fehlte die Live-Erfahrung der Band und der dazu gehörenden, von Andy Warhol konzipierten „Exploding Plastic Inevitable“-Show. Vor diesem Problem stand auch der Filmemacher Todd Haynes, der bereits mit Filmen wie „Superstar: The Karen Carpenter Show“, „Velvet Goldmine“ oder „I’m Not There“ ein Faible für eigenwillige Auseinandersetzungen mit dem Musiker-Sujet bewiesen hatte. Im Falle von „The Velvet Underground“ hat er aus der Not eine Tugend gemacht, indem er die Entstehung der Band innerhalb der multimedialen New Yorker Avantgarde-Szene der 1960er-Jahre kontextualisierte. So liefern hier Filme von Andy Warhol oder Jonas Mekas einen Überfluss an Hintergrund zu den verfügbaren O-Tönen und den Talking Heads der Zeitzeugen wie Merrill Reed-Weiner, Allan Hyman, La Monte Young, Jackson Browne, Jonas Mekas, John Waters, Jonathan Richman, Mary Woronov oder Amy Taubin, sodass der Film via Split-Screen bis zu zwölf Bild-Kanäle gleichzeitig bedient.
Auch die überlebenden Ex-Velvets John Cale, prominent, und Mo Tucker, weniger prominent, steuern ihre jeweiligen Perspektiven auf die Bandgeschichte bei. Durch das gewählte Verfahren des Films werden unterschiedliche Einflüsse wie Tin Pan Alley, Doo Wop, Noise und Drone, Minimalismus und Avantgarde, Tony Conrad, Delmore Schwartz, Hubert Selby, Rimbaud und Baudelaire, William S. Burroughs, Jack Smith derart profiliert, dass man sich wundert, dass Susan Sontag erst so spät mit ihren „Notes on Camp“ auf der Bildfläche erschien.
Queerness is all around
Das einzigartige Mischungsverhältnis, das Velvet Underground im Angebot hatte, erscheint geradezu konsequent und organisch aus einer entsprechenden Szene hervorgegangen zu sein: „Queerness“ schien zumindest dort all around. Aber vielleicht auch nur dort? Zu Beginn des Films gibt es einen Auftritt von John Cale, der gerade den Marathon von Erik Saties „Vexations“ hinter sich gebracht hat – eine Seite Partitur 840mal wiederholt. Dauer: 18 Stunden und 40 Minuten. Ungläubiges Staunen und großes Gelächter im Studio. Was das denn, bitte schön, solle?
Später im Film wird erzählt, dass man an der Flower-Power-Westküste Velvet Underground regelrecht gehasst habe, weil sie mit ihrem Sound und den Texten zu Gewalt, Drogensucht, Sadomasochismus und Transvestismus so rein gar nichts mit dem „Zeitgeist“ zu tun gehabt hätten. Und noch später im Film der Auftritt von Jonathan Richman, der die Band wohl häufiger als irgendjemand sonst live gesehen hat. Er gibt zu Protokoll, was er damals Faszinierendes gehört hat und wie die Begegnung mit dieser Kunst sein Leben veränderte.
Vom Avantgarde-Projekt zur vergleichsweise normalen Rockband
Natürlich geht Haynes mit dem gewählten Verfahren Risiken ein, die manchem Velvet-Underground-Fan aufstoßen könnten. Weil viele der unmittelbar Beteiligten nicht mehr am Leben sind, bekommen die Einschätzungen von John Cale, der die Band nach dem zweiten Album verließ oder verlassen musste, etwas arg viel Gewicht. Für die Sängerin Nico wird die Band zu einer Art Durchgangsstation; der später eingewechselte Gitarrist Doug Yule verweigerte eine Mitarbeit am Film. Als sich The Velvet Underground nach dem Weggang von Nico und John Cale recht rasch vom Avantgarde-Projekt zu einer vergleichsweise normalen Rockband entwickelte, werden die weiteren Stationen der Karriere recht zügig abgewickelt (ernstzunehmende Musikkritiker halten das dritte Album für das beste), und das „Squeeze“-Album wird gar nicht mehr erwähnt.
Für die diversen, einflussreichen Solokarrieren von Reed, Cale und Nico müssen eine Montage von Albumcovern genügen. Dass die alten Animositäten irgendwann ad acta gelegt wurden, wird mit der Warhol-Hommage „Songs for Drella“ immerhin angedeutet. Der Film endet mit einem Trio-Konzert im Pariser Club Bataclan 1972. Reed singt, Cale streicht, Nico sitzt daneben. Schöne Eintracht.