Who's Afraid of Alice Miller?

Dokumentarfilm | Schweiz 2020 | 101 Minuten

Regie: Daniel Howald

„Es war mir nicht gegeben, eine gute Mutter zu sein“, sagte die bekannte Kinderrechtlerin und Psychoanalytikerin Alice Miller einmal. Der Dokumentarfilm erforscht anhand einer Recherche ihres Sohnes Martin Miller die Gründe für das mütterliche Scheitern und kommt dabei den Traumata einer Holocaust-Überlebenden auf die Spur. Verdrängungen, Projektionen sowie Hass auf den eigenen Ehemann äußerten sich in Gefühlskälte gegenüber dem Sohn, der ein doppeltes Trauma mit sich herumschleppt: das eigene als ungeliebtes Kind und das seiner Mutter als verfolgte Jüdin. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
WHO'S AFRAID OF ALICE MILLER?
Produktionsland
Schweiz
Produktionsjahr
2020
Produktionsfirma
SwissDok/SRF/SRG/SSR
Regie
Daniel Howald
Buch
Daniel Howald
Kamera
Gabriel Sandru · Ramon Giger
Musik
Raphael B. Meyer
Schnitt
Christof Schertenleib · Daniel Howald
Länge
101 Minuten
Kinostart
11.11.2021
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Heimkino

Verleih DVD
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Der Sohn der bekannten Kinderrechtlerin und Psychoanalytikerin Alice Miller erforscht die Gründe für die Lieblosigkeit seiner Mutter ihm gegenüber und stößt dabei auf die Traumata einer Holocaust-Überlebenden.

Diskussion

Einmal schrieb die berühmte Schweizer Kinderrechtlerin Alice Miller (1923-2010) an den Papst, ein anderes Mal an den britischen Premierminister Tony Blair, um gegen die Misshandlung von Kindern zu protestieren. Die Psychoanalytikerin hatte ab den 1970er-Jahren mehrere Bestseller verfasst, darunter das Sachbuch „Das Drama des begabten Kindes“, und sich weltweit Anerkennung als Streiterin für Kinderrechte erworben.

Das einzige Kind, das sie nicht beschützte, war ihr eigenes. Ihren 1950 geborenen Sohn Martin strafte sie mit Gefühlskälte und schritt nicht ein, wenn sein gewalttätiger Vater ihn schlug.

Der Fluch von Traumata und Schuldgefühlen

Doch wer war diese Alice Miller wirklich? Wie konnte sie ihr ehrliches Engagement für andere Kinder von der lieblosen Behandlung ihres Sohnes abspalten? Die Lösung dieses Rätsels ist klar und komplex zugleich.

Alice Miller, 1923 als Alicja Englard in Polen als Tochter jüdisch-orthodoxer Eltern geboren, war eine Holocaust-Überlebende. Den Zweiten Weltkrieg verbrachte sie unter falscher Identität in Warschau; ständig musste sie ihre Enttarnung befürchten. Nach dem Krieg emigrierte sie mit ihrem christlichen Ehemann Andreas Miller (ursprünglich Andrzej Miller), dem späteren Vater von Martin, in die Schweiz. Beide wurden dort erfolgreiche Akademiker, doch über ihre Vergangenheit sprachen sie nie.

Der Dokumentarfilm von Daniel Howald stellt den Sohn Martin Miller ins Zentrum. Dieser reist etliche Jahre nach dem Tod Alice Millers nach Deutschland und Polen, um etwas über die Wurzeln seiner Mutter in Erfahrung zu bringen. Als Psychoanalytiker weiß Martin Miller, dass Holocaust-Überlebende ihre Traumata und Schuldgefühle unbewusst an ihre Kinder weitergegeben haben. Als Mensch und ungeliebter Sohn möchte er mehr über seine Familiengeschichte herausfinden, über die sich seine Mutter stets ausgeschwiegen hatte.

Ungeheuerliches tritt zutage

Die Suche erweist sich als Tour de Force, da Millers um Verständnis ringende Vernunft ständig mit seinen verletzten Gefühlen kollidiert. Seine Tante Irenka Taurus steht ihm bei seiner Erkundung zur Seite. Die hochbetagte, aber sehr vitale Kusine von Alice Miller entkam als Kind durch viel Glück ebenfalls der NS-Vernichtungsmaschinerie. Auch für sie gerät Martin Millers Unternehmung zur Rückkehr in schmerzliche Erinnerungen. Gleichzeitig fungiert sie als Dolmetscherin und steuert mit Bekannten der Familie, Historikerinnen, dem Psychoanalytiker von Alice Miller und einem Journalisten dazu bei, ein wenig Licht in das Labyrinth von Verdrängung, Vertuschung und verlorenen Spuren zu bringen.

Alice Miller erscheint im Film auf Fotos oder ergreift in Archivaufnahmen vehement für Kinder Partei, was in ihrem Sohn heftige Gefühlsausbrüche auslöst. Zudem erhalten die Zuschauer einen intimen Einblick in den persönlichen Briefwechsel von Mutter und Sohn – der Ungeheuerliches zutage fördert. Alice Miller projiziert darin Hass und Schuldgefühle, die sie mit ihrem Ex-Mann verbindet, auf ihren Sohn. Schließlich schreckt sie nicht einmal davor zurück, Martin mit Hitler zu vergleichen, der als Kind ebenfalls von seinem Vater malträtiert wurde.

Die Übermutter wird zur Hexe stilisiert

Vorgelesen werden Alice Millers Briefe im Off von Katharina Thalbach. Dem bravourösen Vortrag der Schauspielerin zum Trotz verstärkt der Regisseur die ohnehin schon harten Worte der Psychoanalytikerin zuweilen durch Klangeffekte, welche die gefürchtete Übermutter vollends zur Hexe stilisieren. Solche Elemente sind wenig hilfreich und verdeutlichen die mitunter einseitige Perspektive des Films. So erzählt eine Schweizer Journalistin, der Alice Miller ein rares Interview gewährte, von deren Kontrollwahn und wie sie ihren Wohnort nicht preisgeben und Zeitpunkt und Ort des Treffens selbst bestimmen wollte. Wenig Neugierde bringt sie allerdings dafür auf, woher Alice Millers Paranoia gerührt haben mag.

Entlastendes kommt einzig von Überlebenden. Irena Taurek kann sich in ihre Kusine hineinversetzen und weist auch darauf hin, wie sehr Alice Miller seit ihrem 17. Lebensjahr auf das Lügen angewiesen war, um am Leben zu bleiben. Auch eine Freundin der in Polen verbliebenen (und mittlerweile verstorbenen) Schwester von Alice Miller erzählt, wie das Thema Judentum in ihrer Familie tabuisiert wurde. Der Krieg war in den Köpfen der Überlenden noch nicht beendet. Sie fühlten sich auch im Nachkriegspolen nicht sicher.

Auch Irenka Taurek bestätigt dies. In Lodz sieht man sie vor einer Schule stehen, die sie nach dem Krieg nicht aufnehmen wollte; das gab den Ausschlag dafür, dass sie mit ihren Eltern Polen verließ. Durch Zeitzeugen und aus historischen Dokumenten treten Geschichten zutage, welche die heutige rechtspopulistische Regierung in Polen gerne unter den Teppich kehren würde. Der Film deutet auch an, dass polnische Archivare die Recherchen von Martin Miller und seinem Team behinderten, als es um das Thema der Kollaboration mit den deutschen Besatzern ging.

Es bleibt bei der Interpretation

Gegen Ende von „Who’s Afraid of Alice Miller“ gerät Andreas Miller, Martins dominanter und gewalttätiger Vater, in den Fokus der Nachforschungen, was auch den auf Edward Albee anspielenden Titel des Films erklärt. Dennoch bleibt Martin Miller der Hauptakteur des Films. Der seelische Schmerz eines Sohnes, dem die eigene Mutter ihre Liebe und ihre Lebensgeschichte vorenthalten hat, ist durchaus nachvollziehbar. Durch seine Nachforschungen ist Miller um einige Erkenntnisse reicher geworden. Er versteht, wie seine Mutter ihre Paranoia und Verdrängung auf ihn abgewälzt hat. Allerdings bleibt ein Gefühl des Unvollendeten zurück. Wie einer der Historiker im Film betont, enthalten die Archivdokumente über Alice Miller und andere Überlebende lediglich Bruchstücke von Biografien. Man kann sie interpretierten, aber nicht zu einem kohärenten Ganzen zusammenfügen.

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