Als Anfang 2020 die Corona-Pandemie über eine völlig unvorbereitete Weltbevölkerung hereinbrach, eroberten Bilder von menschenleeren Straßen die Medien. Die durch die weltweiten Lockdowns bedingte urbane Ödnis in Metropolen wie New York oder Paris war man nicht gewohnt. Aufnahmen von wilden Tieren, welche zu Streifzügen durch Städte aufbrachen, oder von Pinguinen, die durch das geschlossene Aquarium des Chicagoer Zoos spazierten, sorgten für Erheiterung, während auf Social-Media-Kanälen Videos von musizierenden Familien viral gingen.
Nach Hunderten Millionen von Impfungen hat sich die westliche Welt – trotz hoher menschlicher Verluste – mit dem Virus arrangiert. Die Bilder vom Beginn der Pandemie wirken im Spätsommer 2021 schon wieder fremd; das aktuelle Straßenbild unterscheidet sich vielerorts kaum noch von dem vor Covid-19 – von maskentragenden Menschen einmal abgesehen.
Doch die Dokumentation „Die Welt jenseits der Stille“ von Manuel Fenn dreht die Uhr ein wenig zurück. Es ist ein filmisches Stimmungsbild, das die Folgen der Pandemie nach ihrem Ausbruch an zwölf verschiedenen Orten auf vier Kontinenten abbildet und dabei die Schicksale unterschiedlichster Menschen in den Vordergrund rückt. Im März 2020, unmittelbar nach dem ersten Lockdown, hatten der Regisseur und seine Produzenten die Idee zu ihrem internationalen Projekt. Das setzten sie mit zwölf unterschiedlichen Drehteams vor Ort um, da eigenes Reisen nicht mehr gestattet war.
Keine Karten oder Statistiken
In dem Film kommen keine Virologen zu Wort, es werden keine Karten eingeblendet und gibt es keine Statistiken. Inserts informieren über den Namen der Menschen und an welchem Ort sich ihr individuelles Corona-Schicksal abspielt. So fängt alles mit einer Panoramaaufnahme einer Ziegenherde im Iran an. Die Hirten sagen, das Corona-Virus sei von Dschinn-Geistern erfunden worden. In Rom wiederum beerdigt eine polnische Pflegerin eine 94-jährige Italienerin, die unter ihrer Obhut stand und nach einem Sturz starb, weil sie im überfüllten Krankenhaus nicht behandelt werden konnte. In Berlin darf ein chinesischer Shaolin-Meister seine Schüler nicht mehr unterrichten. Mit Skype-Gesprächen in die Heimat vertreibt er sich die Einsamkeit und findet die Berliner rücksichtslos, weil so wenige eine Maske tragen.
Die Distanzen werden größer, die Zeit scheint stillzustehen: So beschreibt eine argentinische Künstlerin die Situation, die in London wohnt und deren Eltern auf dem nun physisch unerreichbaren südamerikanischen Kontinent das Enkelkind nur aus Videoschalten kennen. Während die gut situierte Londoner Familie in einem geräumigen Apartment wohnt, verliert ein Pizzabote in New York City seine Wohnung. Im Obdachlosenheim ist die Ansteckungsgefahr zu groß, also wird er vorübergehend in einem Hotel untergebracht.
Sorgen und Nöte vor der Kamera
Die Protagonisten werden bei alltäglichen Verrichtungen oder ihrer Arbeit gezeigt, sofern sie ihr noch nachgehen dürfen. Vor der Kamera erzählen sie von ihren Sorgen und Nöten, so wie ein Krankenhausangestellter in Brasilien, der in Favelas gratis Masken verteilt und nun von seinem Lebensgefährten getrennt lebt, aus Angst, ihn anzustecken. Bei einem Paar im bolivianischen Cochabamba kriselt es doppelt: wegen Corona und ihrer zerrütteten Ehe. Die räumliche Enge macht die Lage nicht besser.
Bei einigen Protagonisten verschärft die Pandemie Träume von Eigenständigkeit oder Selbstverwirklichung. So muss eine israelische Künstlerin aus Haifa wieder bei ihrer ultraorthodoxen Familie einziehen, von der sie sich losgelöst hatte. In Nairobi wiederum sorgt sich eine alleinerziehende Schuhputzerin um ihre 14-jährige Tochter, die nicht mehr zur Schule darf und die Tage allein zu Hause verbringt.
Jede Geschichte gibt einen Einblick in unterschiedlichste Lebensverhältnisse und -einstellungen, nicht zuletzt auch in jene des indigenen Kuikuro-Stamms im brasilianischen Amazonas-Gebiet, den das Virus trotz aller Vorsichtsmaßnahmen heimsucht. Einige Geschichten berühren mehr als andere, doch erweist sich insbesondere die Ambition des Dokumentarfilms, möglichst weltumspannend zu erzählen, als Schwäche. Den Fimemachern standen 160 Stunden Rohmaterial zur Verfügung, aus dem sie einen zweistündigen Film zusammenschnitten; bei einer Reduzierung der Protagonisten hätte einiges vertieft werden können.
Weltweit in einer ähnlichen Lage
Fenn und seine Teams arbeiten die nivellierende Kraft der Pandemie heraus, die Menschen unterschiedlichster ethnischer Herkunft, Kultur, Religion und sozialer Stellung weltweit in eine ähnliche Lage versetzt. Der Film zeigt auch, dass sozial Schwächere erheblich mehr unter der Krise leiden. Doch wirklich harte Schicksale bleiben ausgespart. Die Regie setzt ästhetische Prioritäten, konzentriert sich auf ihre – oft aus der Vogelperspektive komponierten – schönen Bilder, die eine globale Gültigkeit beschwören, sowie auf ihren bedeutungsvoll anmutenden, dröhnenden Soundtrack.
Dennoch bildet „Die Welt jenseits der Stille“ ein wohltuendes filmisches Gegengewicht zu den von Hiobsbotschaften und kaum erträglichen Bildern geprägten gängigen Fernsehreportagen und kann sich eines verständnisvollen Publikums gewiss sein.