Der Giftanschlag von Salisbury

Drama | Großbritannien 2020 | 174 (vier Folgen) Minuten

Regie: Saul Dibb

Eine Miniserie über den spektakulären Fall um den russischen Doppelagenten Sergej Skripal, dessen sehr wahrscheinlich gezielte Vergiftung mit dem militärischen Kampfstoff Nowitschok im englischen Salisbury 2018 für ungemeine Bestürzung dort und einen internationalen diplomatischen Eklat sorgte. Formal innovativ und besonders von Hauptdarstellerin Anne-Marie Duff in der komplexen Rolle der verantwortlichen Gesundheitsexpertin überzeugend gespielt, macht die vierteilige Serie sowohl die Hintergründe als auch die Handlungsoptionen der Beteiligten dieses skandalösen Geschehens anschaulich und plausibel. Zum Schluss weist sie einige Längen und dramaturgische Schwächen auf, die dem grundsätzlich aufklärerischen und dokumentarischen Gestus der filmischen Erzählung etwas von seiner Wucht und Schärfe nehmen. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
THE SALISBURY POISONINGS
Produktionsland
Großbritannien
Produktionsjahr
2020
Produktionsfirma
Dancing Ledge Prod.
Regie
Saul Dibb
Buch
Adam Patterson · Declan Lawn
Kamera
Graham Smith
Musik
Rael Jones
Schnitt
Tania Reddin · Alastair Reid
Darsteller
Anne-Marie Duff (Tracy Daszkiewicz) · Rafe Spall (DS Nick Bailey) · Annabel Scholey (Sarah Bailey) · Wayne Swann (Sergej Skripal) · Jill Winternitz (Julia Skripal)
Länge
174 (vier Folgen) Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama | Serie | Thriller

Heimkino

Verleih DVD
Leonine
Verleih Blu-ray
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Im März 2018 wurde in Salisbury der ehemalige russische Doppelagent Sergej Skripal mit dem von Russland entwickelten militärischen Kampfstoff Nowitschok vergiftet. Die Miniserie rollt den skandalösen Anschlag und seine Folgen auf.

Diskussion

Der öffentliche, doch nicht immer gemeinsame Kampf gegen eine neuartige, unsichtbare Bedrohung, sei es ein Virus oder wie hier ein hochgefährliches Nervengift („geruch- und geschmacklos“, wie es dann oft heißt), ist eine rechte Herkulesaufgabe, das führt die vierteilige Miniserie „Der Giftanschlag von Salisbury“ „nach wahren Begebenheiten“ von Saul Dibb anschaulich vor Augen, vor allem durch ihre Hauptfigur Tracy Daszkiewicz (Anne-Marie Duff). Die Geschichte entspinnt sich dabei am Fall des russischen Doppelagenten und Überläufers Sergej Skripal (Wayne Swann), der wie auch seine Tochter im Frühjahr 2018 in der südenglischen Stadt Salisbury mit lebensbedrohlichen Vergiftungserscheinungen in einem Park aufgefunden und sofort isoliert wird. Die staatlichen Autoritäten handeln schnell und umsichtig: Ein Stab wird gebildet aus Vertretern lokaler Behörden, der Polizei und der Wissenschaft. Später schaltet sich noch ein näseliger, leicht arroganter höherer Beamter (Michael Shaeffer) „aus Whitehall“ ein und stellt Ansprüche. Als auch der am Fundort ermittelnde Polizist Nick Bailey (Rafe Spall) schwer erkrankt, ist klar, dass höchste Eile geboten ist, um eine weitere Ausbreitung des Giftstoffs sowie die Gefährdung größerer Teile der Bevölkerung unbedingt zu vermeiden.

Anne-Marie Duff an der Front gegen den russischen Kampfstoff

Hier kommt nun Tracy ins Spiel, die als Leiterin des regionalen Gesundheitsamtes eine Schlüsselrolle bei Aufklärung und Abwehr des Giftanschlags einnimmt. Meist ist sie es auch, die der aufs Höchste besorgten Stadtgemeinschaft die neuesten, stets nicht sehr ermutigenden Nachrichten mitzuteilen hat. Anne-Marie Duff porträtiert sie glaubwürdig als fähige, kommunikativ kompetente, doch stets überbürdete Wissenschaftlerin mit leichtem Tremor der rechten Hand, die sich für Wochen von Schlaf, Mann und pubertierendem Sohn verabschieden muss. Natürlich wird sie aus der aufgebrachten Menge sofort gefragt, ob sie denn auch Kinder habe und also überhaupt die Besorgnis der anderen so recht mitempfinden könne: ein Beispiel für eine kleine vergleichende Studie zu Müttern in der Krise, die die Serie auch anbietet. Weiterhin gelingt es ihr, ausgehend von „Patient Zero“ und einer möglicherweise exponentiell anwachsenden Kontamination mit dem Toxin, das rasch als der in und von Russland entwickelte militärische Kampfstoff Nowitschok identifiziert wird, die Dynamik einer mittleren Katastrophe zu illustrieren – und deren Konsequenz, den schleichend herbeigeführten gesellschaftlichen Ausnahmezustand. Das mutet unheimlich vertraut an, wenn auch für eine Serie aus dem Jahr 2020 nicht mehr allzu prophetisch.

„Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“, formulierte der politische Philosoph Carl Schmitt einmal apodiktisch. Während jener in Deutschland etwa zu Bewegungen wie „Querdenken“ geführt hat, propagiert die Serie hier wieder einmal das beliebte britische Selbstbild vom Everyman, der in Zeiten nationaler Bedrohung bereit ist, Blut, Schweiß und Tränen zu geben für das große Ganze. Immer wieder kann man auf den Lageplänen in Tracys Hand etwa „Churchill Way“ entziffern. England, oder zumindest Salisbury, ist wieder im Krieg! Die Serie betont die Effizienz des britischen Polizei- und Gesundheitsapparats in dieser Krisensituation sowie den Common Sense der Mehrheit und wird auf diese Weise Teil des aktuellen Trends zur insularen Selbstvergewisserung, den man diversen Neuproduktionen aus dem Vereinigten Königreich derzeit deutlich ablesen kann.

Dramaturgisch etwas problematisch wird die Sache, wenn die Showrunner allzu kursorisch auch eine internationale politische Bewertung der geschilderten Ereignisse vornehmen wollen und dabei von fundierten Fakten und erwägenswerten Hypothesen schnell zu drastischer Russlandkritik, ja Russophobie übergehen (“Putin’s gonna get me!”, wird Skripal einmal zitiert). Dass sie diese Partien ausgerechnet kurzen „authentischen“ TV-Einspielern verschiedener Fernsehanstalten übertragen, macht’s angesichts des immer wieder gerade auch in solch anspruchsvollen Doku-Serien beklagten Zustands der britischen (Sensations-)Presse nicht unbedingt besser …

In der vierten und letzten Episode schließlich wird der Fall Skripal nahezu gänzlich in den Hintergrund gerückt, zugunsten von Polizist Nick Bailey, der sich heldenhaft ins Leben zurückkämpft, jedoch ein Gezeichneter bleibt, und auch das allzu rührselig inszenierte Familiendrama der Sturgesses: Dawn Sturgess (MyAnna Buring) kommt zusammen mit ihrem Lebensgefährten Charly (Johnny Harris) durch eine sehr zufällige, sehr unglückliche Verkettung von Umständen ebenfalls in Kontakt mit Nowitschok – mit fatalen Konsequenzen. Hier wäre etwas weniger mehr gewesen, und die Ausführlichkeit dieser Schilderungen bringt außerdem die innere Statik des Doku-Dramas gefährlich ins Wanken. Szenen von der Fußball-WM 2018 auf den Schirmen der Protagonisten zeigen noch einmal viele stolze, jubelnde Engländer, führen aber auch drastisch die Anfälligkeit und Verwundbarkeit einer offenen, demokratischen Gesellschaft vor Augen, deren Hochfeste zumeist Massenveranstaltungen sind. Und gegen Nowitschok lässt sich nicht impfen – nicht einmal mit Sputnik V.

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