Shiva Baby
Coming-of-Age-Film | USA/Kanada 2020 | 77 Minuten
Regie: Emma Seligman
Filmdaten
- Originaltitel
- SHIVA BABY
- Produktionsland
- USA/Kanada
- Produktionsjahr
- 2020
- Produktionsfirma
- Neon Heart Productions
- Regie
- Emma Seligman
- Buch
- Emma Seligman
- Kamera
- Maria Rusche
- Musik
- Ariel Marx
- Schnitt
- Hanna A. Park
- Darsteller
- Rachel Sennott (Danielle) · Molly Gordon (Maya) · Polly Draper (Debbie) · Danny Deferrari (Max) · Fred Melamed (Joel)
- Länge
- 77 Minuten
- Kinostart
- -
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 14.
- Genre
- Coming-of-Age-Film | Komödie
- Externe Links
- IMDb | TMDB | JustWatch
Ein fulminanter Debütfilm über einen unangenehmen Tag im Leben einer bisexuellen jungen Jüdin: Ein Familientreffen im Rahmen einer Schiv'a, der traditionellen jüdischen Trauer-Woche nach dem Tod eines Verwandten, wird zur emotionalen Tour de Force
Am Ende von "Shiva Baby" fühlt man sich exakt so, wie die Hauptfigur zu diesem Zeitpunkt aussieht: derangiert und völlig erschöpft. Und doch würde man sich den Film am liebsten gleich noch einmal ansehen. Zu zahlreich sind die kreativen Einfälle auf der Bild- und Tonebene, als dass man beim erstmaligen Schauen wirklich jedes der vielen wunderbaren Details aufnehmen könnte. Der Film ist ein Meisterwerk in Sachen Dialog- und Schauspielführung, Wortwitz und visuellen Spielideen, und er birst nur so vor absurden Dialogen und skurrilen Figuren. Es ist kaum zu glauben, dass die Dramödie zugleich ein (Langfilm-)Debüt ist. Autorin und Regisseurin Emma Seligman hat mit „Shiva Baby“ ihren gleichnamigen Abschluss-(Kurz-)Film an der New York Tisch School in abendfüllender Länge adaptiert.
Unklare Lebensperspektiven & ein „Sugar Daddy“
Im Zentrum steht Danielle (Rachel Sennott), die mit ihren Eltern eine Schiv'a besucht, die jüdische Trauerfeier für einen nahen Verwandten. Die Frühzwanzigerin weiß bislang nicht viel mit ihrem Leben anzufangen, studiert mit eher unklarem Ziel Gender Studies, verdient sich als Babysitterin ein bisschen Geld und schaut sich nebenbei nach Praktika um. Das zumindest ist die offizielle Version – die für Eltern und Verwandten.
In Wirklichkeit lässt sich Danielle von Max, ihrem deutlich älteren Liebhaber, dem gegenüber sie sich als Jurastudentin ausgibt, für ihre Liebesdienste bezahlen, was der in fast rührendem Selbstbetrug zu einem feministischen Akt umdeutet. Ein „Kunde“ ist ihr „Sugar Daddy“ aber dennoch nicht, da durchaus eine gegenseitige Anziehung mit im Spiel ist. Was genau Max allerdings für sie darstellt, bleibt, wie so vieles in Danielles Leben, im Ungefähren. Dabei hätte die junge Frau schon eine Idee, was sie wirklich will, jenseits der Erwartungen der anderen: Comedy machen und ein selbstbestimmtes Leben führen.
Doch davon ist Danielle generell Meilen entfernt – und bei der Schiv‘a noch viel mehr. Denn dort trifft sie auch auf ihre weitaus zielstrebigere Kindheitsfreundin Maya, mit der sie eine nicht geklärte Affäre verbindet. Und außerdem taucht auch noch Max auf, mit seiner beruflich erfolgreichen Frau (die in ihrer barbiepuppenhaften Perfektheit frappierend an Ivanka Trump erinnert) und ihrem ständig schreienden Baby – von deren beider Existenz Danielle bis dato nichts wusste.
Emma Seligman inszeniert die Trauerfeier als geradezu klaustrophobische Situation, mit einem Ensemble, das an ein regelrechtes Horrorfigurenkabinett erinnert. In jedem Winkel des Hauses scheinen schwerhörige Verwandte und übergriffige Bekannte zu lauern, die alle nur eines wollen: wissen, wie Danielles berufliche Aussichten aussehen, ob sie einen Freund hat und warum sie eigentlich so dünn ist. Danielles Eltern, wohlmeinend, aber frei von jedem Schamgefühl, setzen sich quasi an die Spitze dieser Bewegung, indem sie während der Schiv‘a eine berufliche Perspektive für ihre Tochter auftun wollen.
Genüsslicher Parcours der Peinlichkeiten
Das Familienfest bedeutet für Danielle also eine nicht enden wollende Abfolge an unangenehm-beklemmenden Situationen. Die Kamera, die sie bei all den peinigenden Gesprächen und auf ihren Wegen durch das Haus stets ganz nahe folgt, aber auch die Musik der Filmkomponistin Ariel Marx sorgen dafür, dass man unmittelbar am Gemütszustand der Protagonistin partizipiert. Die gezupften Streichinstrumente mit ihren die Nerven malträtierenden Tönen lassen Danielles Bedrängung und Unwohlsein geradezu körperlich spürbar werden.
Gleichzeitig ist „Shiva Baby“ aber umwerfend komisch. Was viel mit Seligmans scharfem Blick für Verwandtschaftsbeziehungen und Generationenkonflikte sowie ihrem traumwandlerisch sicheren Gespür für die Inszenierung eskalierender Kommunikation zu tun hat. Ein stimmiger Erzählrhythmus sorgt zudem dafür, dass die Spannung bis zuletzt hoch bleibt.
Die schauspielerischen Leistungen, angeführt von der grandiosen Rachel Sennott, sind brillant. Ob das die von Fred Melamed und Polly Draper stets auf den Punkt gespielten Eltern sind, Deborah Offner als besonders beeindruckende Vertreterin des hier äußerst zahlreichen Figurentypus der alten Schabracke, Molly Gordon als Maya (die einzige halbwegs gefestigte Person im ganzen Film), Danny Deferrari als Nichtsnutz Max und Dianna Agron als dessen provozierend makellose Ehefrau – die Liste an tollen Schauspielleistungen ist ebenso lang wie die Liste an Protagonisten.
Und dann wartet dieses feministische Kammerspiel auch noch mit einem Ende auf, das wie der Rest des Films böse, witzig und schier unerträglich ist – aber dennoch eine klitzekleine Hoffnung für Danielle aufscheinen lässt. Perfekt!