Es gibt einen Moment zu Anfang des Films „Hannes“, der authentisch wirkt. Hinter der Hauptfigur Moritz passiert ein Unfall, den er nur dadurch mitbekommt, dass es plötzlich still wird. Bis dahin sitzt er auf einem Motorrad und rast eine Bergstraße hinunter; hinter ihm fährt sein Freund Hannes. Das weiß Moritz, aber er kann es auch hören. Bis das Motorengeräusch von hinten plötzlich ausbleibt. Der Junge hält an, traut sich aber nicht, sich umzudrehen. Diese Reaktion, die Furcht, hinter sich womöglich etwas Schreckliches zu sehen, überträgt sich sofort. Moritz zögert den Moment hinaus, und man zögert mit ihm; die Angst ist nachvollziehbar.
Von da an aber wird man mit Gefühlen bombardiert, vor allem mit Trauer; man soll das Leid der beiden Hauptfiguren in aller Schwere am eigenen Leib spüren. Der Film nutzt dafür alles, was das Kino an manipulativen Emotionalisierungs-Möglichkeiten hergibt. Die Musik ist dramaturgisch konzipiert und flächendeckend auf Sentimentalität ausgerichtet. Nach dem Motto „Viel hilft viel“ wird die Tragik des Geschehens auf der Leinwand im Ton potenziert. Dabei spricht die Tragik des Ereignisses eigentlich für sich selbst: Nach dem Unfall hat Hannes ein Schädel-Hirn-Trauma und liegt für den Rest des Films im Koma; Schuld war außerdem kein Fahrfehler, sondern das Motorrad – es war kaputt, und es gehörte Moritz. Hannes hat es gefahren, um seinen Freund zu schützen.
Sterben, Freundschaft und Schuld
Man kann diese Motive des Films ruhig preisgeben, ohne die Spannung zu verderben. Ganz im Gegenteil. „Hannes“ ist als Melo inszeniert, als Drama über Sterben, Freundschaft und Schuld. Die Vorlage fürs Drehbuch stammt von Rita Falk, die sonst eher lustige bayrische Krimis vorlegt, Regie führte Hans Steinbichler, der bekannt ist für seine Neigung zum emotionalen Kino. Steinbichler zeigt also, was er kann, auch mit der Kamera: Gebirgstotalen, sanfte Herbstlandschaft von oben, häufige Wechsel von wildem Jugendgetümmel im Freien zum plötzlichen Stillstand im Krankenhaus. Die Fallhöhe vom Lachen zum Schweigen, im Moment des Unfalls etabliert, wird in unterschiedlich kitschigen Bildern wiederholt. Inhaltlich kann Steinbichler auf jedermanns Mitleid setzen, weil Hannes nicht mehr tun kann, was er will, und Moritz gar nichts mehr will außer Vergebung.
Im US-amerikanischen Kino gibt es spätestens seit „Love Story“ ein ganzes Subgenre, das sterbende Teenager thematisiert; aufwändig für den Einsatz von Taschentüchern gemachte Filme. An denen zieht „Hannes“ locker vorbei, denn seine Hauptfigur ist bewegungs- und artikulationsunfähig. Man erfährt von ihr nur, indem der schuldgeplagte Moritz an die Stelle seines Freundes tritt. Er übernimmt Hannes' Dienst im psychiatrischen Hospital, träumt dessen Traum einer Reise durch Lateinamerika, repariert mit dessen Vater das unselige Triumph-Motorrad.
Nichts passiert hier unerwartet
Auf diese Weise erzählt der Film vom Leben, nicht vom Sterben, was zwischendurch den Schmerz ein wenig bremst. Vor allem ist Moritz, wenn er mal über Alltägliches reden darf, charmant, streckenweise sogar unterhaltsam. Bis wieder Rückblenden in die Kindheit der beiden Jungs folgen, die in ihrer Freundschaft gern Astrid Lindgrens „Brüder Löwenherz“ zitieren: „Wo du hingehst, da will ich auch hingehn“.
Man kann also weinen, wenn man das möchte. Problematischer wird es, wenn man lieber nicht weinen möchte, dann merkt man, wie sehr der Film am Publikum zerrt und rüttelt, denn er will in seinem Pathos unbedingt ernst genommen werden. Kein Klischee ist zu absurd, keine Erschütterung zu artifiziell. Grundsätzlich ist natürlich nichts dagegen einzuwenden, dass Filme mit der Gefühlsklaviatur ihrer Zuschauer spielen; schließlich erwarten wir ja, dass wir von einem Horrorfilm geängstigt, von einer Komödie zum Lachen gebracht oder von einem Melodram gerührt werden. Aber es ist eben ein Unterschied, ob ein Film unter der Last ächzt, die ihm aufgetragene Gefühls-Mission zu erfüllen, oder ob er uns unversehens in die Herzen trifft, ohne dass wir vorher die stilistischen Waffen, mit denen dabei operiert wird, aufdringlich klirren hören. Unversehens passiert in „Hannes“ nichts. Hier ist stets der Wille spürbar, den Film zum Rührstück der Saison zu machen.