Dokumentarfilm | Deutschland/Polen/Niederlande 2020 | 79 Minuten

Regie: Agnieszka Zwiefka

Eine einstige Kämpferin der Separatistenorganisation „Tamil Tigers“ in Sri Lanka befragt nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis frühere Kameradinnen. In dem aus diesen Gesprächen entstehenden Buch sollen die bislang nie erzählten Biografien skizziert werden, Erinnerungen der oft gewaltsam rekrutierten Kämpferinnen, deren Leben von Verfolgung und Stigmatisierung geprägt ist. Der Dokumentarfilm nimmt an diesen Interviews als empathischer Beobachter teil und enthüllt eine zerrissene Gesellschaft, die unter den Wunden des Bürgerkriegs so sehr leidet wie unter dessen fehlender Aufarbeitung. Neben Archivmaterial werden dabei auch knappe artifizielle Spielszenen verwendet. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
SCARS
Produktionsland
Deutschland/Polen/Niederlande
Produktionsjahr
2020
Produktionsfirma
Kloos & Co./Chilli Prod./Witflim
Regie
Agnieszka Zwiefka
Buch
Agnieszka Zwiefka
Kamera
Kacper Czubak
Musik
Anselme Pau
Schnitt
Thomas Ernst
Länge
79 Minuten
Kinostart
22.04.2021
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Dokumentarfilm

Ein dokumentarisches Road Movie über eine ehemalige Separatistenkämpferin in Sri Lanka, die einstige Kameradinnen befragt und auf erschütternde Schicksale stößt.

Diskussion

Wer bin ich?, fragt die Erzählerin in nächtlicher Umgebung und schlägt damit das Thema des Films an: die Selbstbefragung einer einstigen Rebellin, die als 17-Jährige begann, im Untergrund für die Unabhängigkeit ihres Volkes zu streiten. Seit ihrer Kindheit hatte Vetrichelvi immer wieder miterleben müssen, wie die tamilische Minderheit in Sri Lanka diskriminiert und verfolgt wird. Als Konsequenz aus den entwürdigenden Erfahrungen schloss sie sich der Separatistenorganisation „Tamil Tigers“ an. In dem von beiden Seiten mit äußerster Brutalität geführten Bürgerkrieg, der insgesamt 25 Jahre dauerte, verlor sie einen Arm und ein Auge. Unter dem Decknamen „Miss Victory“ wurde sie als radikale Radiosprecherin der tamilischen Befreiungsbewegung bekannt – und als charismatische Dichterin. Nach dem Ende des Krieges kam sie wie viele andere in Gefangenenlager; bis heute werden die „Tigers“ in Sri Lanka weitgehend geächtet.

Zu Beginn des Films sitzen Vetrichelvi und ihre Schwester beisammen; die Schwester sagt leise, es habe Spaß gemacht: „Es ist, als würden wir spielen. Es war wie ein Spiel, der Krieg.“ – Doch dann wird sie ernst, die Kamera blendet nicht ab, sondern verweilt lange auf ihrem stummen Gesicht; in ihren Augen erscheinen Tränen. Der Krieg – ein Spiel? Der Krieg – ein Trauma! Und etwas, worüber in Sri Lanka nicht geredet, nicht reflektiert wird. Im Dialog bestätigen sich die beiden Frauen, dass kaum jemand ihre Geschichten kenne: „Wenn wir sterben, wird niemand erfahren, was wir im Krieg erlebten.“ Für Vetrichelvi ist das wie ein Zündfunke. Auch davon muss erzählt werden, Berichte von Terror und Hoffnung, von Angst und Geborgenheit, von Aufruhr und Tod.

Empathische Interviews und artifizielle Spielszenen

Die polnische Regisseurin Agnieszka Zwiefka hat Vetrichelvi vier Jahre lang auf ihrer Reise begleitet und einen empathischen Film über die einstigen Kämpferinnen gedreht, der auch Raum gibt für deren Trauer und Melancholie. Mit ihrer Kamera nahm sie an den Interviews mit einigen der Frauen teil. Darüber hinaus inszenierte sie, von der harten Realität deutlich abgesetzt und sie gleichsam mildernd, knappe artifizielle Spielszenen: etwa das poetische Bild von barfüßigen Kämpferinnen, die vor pechschwarzem Hintergrund über Wasserflächen laufen, fast wie ein Ballett. Ein weiteres kompositorisches Element sind historische Originalaufnahmen der tamilischen Truppen, so aus einem Trainingslager der Mädchen, die fest an ihre Mission, die Befreiung ihres Volkes, glaubten.

Oft erschütternd sind die Gespräche, die Vetrichelvi für ihr Buch führt. Manche der Frauen, selbst diejenigen, die im Bürgerkrieg schwerste Verletzungen erlitten, bezeichnen die Jahre bei den „Tamil Tigers“ noch immer als die glücklichsten ihres Lebens. Mochte die Idee von Freiheit und Unabhängigkeit auch noch so illusorisch und der bewaffnete Kampf ein Irrweg gewesen sein: Sie gaben Halt in einer als feindlich empfundenen Umgebung und stärkten den Überlebenswillen. Die Verklärungen der Rebellenzeit haben aber auch mit dem zu tun, was danach kam: Verfolgungen, Verhaftungen, Straflager, Ausschluss aus dem gesellschaftlichen Diskurs. Keine Annäherung der gegnerischen Lager, und schon gar keine Versöhnung. „Wir haben keine Tränen mehr“, sagt eine der stigmatisierten Frauen, und auch: „Wenn die Tamil Tigers zurückkämen, wäre ich dabei.“

Momente der Gelöstheit selbst in finsteren Zeiten

Der Titel des Films, „Scars“ (Narben), meint ja nicht nur äußere Verwundungen; auch die Seelen sind zutiefst verletzt. Und doch gibt es selbst in finsteren Zeiten Momente der Gelöstheit, in denen getanzt und gelacht wird. Einmal beobachtet der Film aus der Totale, wie sich am Gartenzaun Männer des Geheimdienstes einfinden und eine der Frauen bedrohen. Indem die Herrschenden das Gespräch über die Vergangenheit nicht zulassen, kann eine Verarbeitung des Traumas nicht gelingen.

Weder Vetrichelvi noch der Film wollen es mit dieser ernüchternden Analyse zur Politik in Sri Lanka bewenden lassen. So recherchiert die einstige „Miss Victory“ trotz massiver Einschüchterungen nicht nur weiter für ihre Porträts, sondern gründet auch eine Organisation für behinderte Frauen, ein Zentrum, das zur Begegnungsstätte werden und Hilfe für bedürftige Frauen leisten kann. Bei allem Schrecklichen, das der Film zeigt – das Bild einer ehemaligen Rebellin mit völlig zerstörtem Antlitz gehört ebenso dazu wie Knochenfunde ermordeter und verscharrter Kinder –, möchte „Scars“ die Zuschauer gern mit einem Minimum an Hoffnung entlassen. Wenn schon nicht auf Versöhnung, so doch auf ein wiedergewonnenes Selbstbewusstsein der Porträtierten, die durch Buch und Film ihre Biografie gleichsam zurückerhalten.

Dass „Scars“ auch nach Abschluss der Dreharbeiten nichts von seiner Dringlichkeit verloren hat, beweist die politische Realität: Die 2019/20 installierte Regierung von Sri Lanka unter dem einstigen Verteidigungsminister, der in der Endphase des Krieges für schwerste Menschenrechtsverletzungen gegen die Tamilen verantwortlich war, hat die Aufarbeitung der Geschehnisse von der Tagesordnung gestrichen. Stattdessen nahm die Unterdrückung ethischer und religiöser Minderheiten im Land wieder zu.

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