Drama | Schweiz 2021 | 85 Minuten

Regie: Niccolò Castelli

Eine kletterbegeisterte junge Frau wird während eines Trekkingausflugs in Marokko Opfer eines Terroranschlags, bei dem ihre drei besten Freunde ums Leben kommen. Sie kehrt traumatisiert in die Schweiz zurück und versucht mühsam, im Leben und beim Bergsteigen wieder Tritt zu fassen. Das Psychodrama nähert sich dem steinigen Weg bei der Bewältigung ihres Traumas und der körperlichen Heilung einfühlsam und in Erzählsprüngen, in denen sich die zersplitterte Wahrnehmung der Hauptfigur spiegelt. Der emotionale Kraft- und Balance-Akt des Films setzt auf starke visuelle Kontraste und profitiert auch von einer wandelbaren Hauptdarstellerin. - Ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
ATLAS
Produktionsland
Schweiz
Produktionsjahr
2021
Produktionsfirma
Imagofilm Lugano/Climax Films/Tempesta srl/RSI Radiotelevisione svizzera/SRG SSR
Regie
Niccolò Castelli
Buch
Niccolò Castelli · Stefano Pasetto
Kamera
Pietro Zuercher
Musik
Karim Baggili
Schnitt
Esmeralda Calabria
Darsteller
Matilda De Angelis (Allegra) · Helmi Dridi (Arad) · Nicola Perot (Benni) · Angelo Bison (Fulvio) · Anna Manuelli (Sonia)
Länge
85 Minuten
Kinostart
27.10.2022
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Drama

Psychodrama um eine leidenschaftliche Bergsteigerin aus dem Tessin, die einen Terroranschlag überlebt und einen mühsamen Prozess startet, um sich wieder aus ihrer psychischen Schockstarre lösen zu können.

Diskussion

Allegra heißt die Protagonistin von Niccolò Castellis „Atlas“. Sie ist Tessinerin, lebt im italienischsprachigen Lugano und arbeitet als Schaffnerin bei der Schweizerischen Bundesbahn. Ihr Name bedeutet auf Italienisch „die Fröhliche“, „die Lebhafte“. Er passt gut zu der lebenslustigen jungen Frau, die man am Anfang des Filmes während einer Klettertour kennenlernt. Sie ist mit ihrem Freund Benni, ihrer besten Freundin Sonia und deren Partner Sandro in den Alpen unterwegs. Die Freude über einen nächsten erklommenen Gipfel steht ihr und ihren Begleitern bei strahlendem Sonnenschein ins Gesicht geschrieben. Noch höher hinaus möchte man gemeinsam und träumt von Gipfelstürmerei in fernen Ländern. Man möchte eines Tages zuoberst auf einem Berg stehen, von dem aus sich der Blick – anders als in der heimischen Umgebung, wo zu Füßen von Bergsteigern höchstens einmal das Nebelmeer wogt – auf die endlose Weite eines Meeres weitet.

Die Rückfahrt nach Hause wird von einem Gewitter begleitet. Die nächste Szene, dunkelgrau, -grün und -blau gehalten, zeigt Allegra versehrt in einem düsteren Zimmer. Wieviel Zeit zwischen den beiden Szenen liegt, verrät sich dem Zuschauer nicht. Und was sich dazwischen ereignet hat, erfährt er erst im Laufe der weiteren Erzählung. Diese elliptische Auslassung ist eine sorgfältig getroffene auktoriale Entscheidung: Niccolò Castelli geht es in „Atlas“ nicht um die Darstellung eines für Schlagzeilen sorgenden, erschütternden Ereignisses und die daraus resultierende Empörung, sondern um den beschwerlichen Weg der Heilung, den seine davon traumatisierte Protagonistin zu gehen hat.

Auftauchen aus dem Halt- und Bodenlosen

Castelli zeigt diesen Weg konsequent aus der Sicht von Allegra. Als ein langsames, in großen Schüben und zahllosen kleinen Schritten vonstattengehendes, tastendes Auftauchen aus dem Halt- und Bodenlosen körperlicher, vor allem aber auch psychischer Versehrtheit: Trauer und Ohnmacht, Angst, Verzweiflung, Schmerz, genährt von der dämmernden Einsicht, dass sich das Geschehene nie wieder ungeschehen machen lässt und das eigene Leben fortan ein anderes ist oder unter anderen Bedingungen stattfindet.

Castelli erzählt – das emotionale Erleben Allegras spiegelnd – in Splittern und in zahllosen, zum Teil abrupten elliptischen Sprüngen: Wenn ein Mensch durch einen gewaltsamen Akt aus seiner Bahn geworfen wird, gerät der Begriff der Zeit ins Schleudern. Wahrnehmungs- und Realitätsebenen beginnen sich zu verschieben und überlagern. Beobachtungen in der Gegenwart rufen bisweilen unvermittelte Erinnerungen an das Moment des Schreckens oder aber an die glückliche Zeit davor wach. Das Erinnerte erscheint dabei so real wie die aktuelle Gegenwart. Das gilt in „Atlas“ übrigens auch für den Zuschauer, was die Rezeption des Films, trotz ausgeklügeltem, gestalterischem Konzept, nicht unbedingt immer einfach macht.

Zu Grunde liegt „Atlas“ ein reales Ereignis: Im Mai 2011 kamen bei einem Terroranschlag auf ein Touristen-Café in Marrakesch drei Mitglieder einer vierköpfigen Reisegruppe aus dem Tessin ums Leben. Niccolò Castelli, der zusammen mit Stefan Pasetto auch für das Drehbuch verantwortlich zeichnet, hat die einzige überlebende Tessinerin damals getroffen und mit ihr über ihre Schwierigkeiten, ins Leben zurückfinden, gesprochen. Zwei Jahre später – noch bevor das sich davor in Sicherheit wiegende Europa von 2015 bis 2017 durch Terroranschläge aus seinem Dornröschenschlaf geweckt wurde – ahnte Castelli, wie er im Presseheft schreibt, dass „etwas in unseren Alltag einzieht, das uns nicht mehr loslassen wird: Die Angst.“ Wie viele seiner Generation, schreibt er des Weiteren, sei er sich davor ziemlich sicher gewesen, separiert vom Rest der Welt auf einer „neutralen, freien und glücklichen Insel“ zu wohnen. Doch die Ereignisse damals hätten ihm schlagartig bewusst gemacht, dass dem nicht so sei.

Das Gleichgewicht wiederfinden

„Atlas“ folgt lose der Chronik der Ereignisse. Nach ihrer Rückkehr aus Marokko lebt Allegra bei ihren Eltern auf dem Dorf. Nach einigen Monaten zieht sie wieder zu Giulia, mit der sie bereits vor ihrer Reise nach Marokko in einer Wohnung über einer alternativen Bar mit Konzertbetrieb in Lugano wohnte. Sie beginnt wieder zu arbeiten. Nicht mehr als Schaffnerin, sondern als Verkäuferin am Ticketschalter. Und sie geht regelmäßig zur Physiotherapie, wo sie mit Unterstützung einer Physiotherapeutin nicht nur Beweglichkeit, Kraft und Ausdauer zurückzugewinnen versucht, sondern auch ihr physisches und psychisches Gleichgewicht: Angst ist ein schlechter Begleiter für jemanden, der schmale Grate entlanggehen und steile Felswände hochklettern will.

Eingestreut in diese Erzählung der Heilung finden sich intime Momente der emotionalen Selbstfindung: Allegras Auseinandersetzung mit dem eigenen vernarbten Körper vor dem Spiegel. Oft zufällige, manchmal aber auch gesuchte Begegnungen mit alten Freunden und Bekannten. Irgendwann ein Besuch bei Bennis Vater, den sie davor nie getroffen hat, und mehrere Gespräche mit Sonias Vater. Nach Monaten schließlich ein Besuch in der Berghütte, in der sie sich früher zusammen mit Sonia wie zuhause fühlte. Nicht zuletzt dann die zögerliche Annäherung an den arabischstämmigen Musiker Arad, der Allegra in Lugano eines Tages zufällig begegnet, und von dem sie sich gleichzeitig so angezogen, wie zwischendurch abrupt abgestoßen fühlt.

Starke visuelle Kontraste

Es ist ein riesiger emotionaler Kraft- und Balance-Akt, den Castelli in „Atlas“ schildert. Er arbeitet dabei mit starken visuellen Kontrasten. Stellt den in hellen Farben gehaltenen Aufnahmen der Zeit davor, die in düsteren Farben gehaltenen der Zeit danach gegenüber. Die sich weitenden Landschaftsaufnahmen glücklicher Tage, die Enge geschlossener Räume und oft nachtdunkler Gassen und Straßen, auch Allegras Abmühen an grauen Felsen in waldiger Landschaft. Die Italienerin Matilda de Angelis spielt Allegra über weite Strecken überaus empfindsam und verhalten, überzeugt in anderen Szenen aber mit großer Sportlichkeit und energievollem Spiel.

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