Motherland (2020)
Drama | Litauen/Lettland/Deutschland/Griechenland 2019 | 96 Minuten
Regie: Tomas Vengris
Filmdaten
- Originaltitel
- GIMTINE
- Produktionsland
- Litauen/Lettland/Deutschland/Griechenland
- Produktionsjahr
- 2019
- Produktionsfirma
- Studio Uljana Kim/Locomotive Prod./Heimathafen Film
- Regie
- Tomas Vengris
- Buch
- Tomas Vengris
- Kamera
- Audrius Kemezys
- Musik
- Karlis Auzans
- Schnitt
- Gintare Sokelyte · Tomas Vengris
- Darsteller
- Severija Janusauskaite (Viktorija) · Darius Gumauskas (Romas)
- Länge
- 96 Minuten
- Kinostart
- -
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 16.
- Genre
- Drama
Schlüssige Charakterstudie anhand eines Mutter-Sohn-Konflikts, die nach dem Fall der Eisernen Mauer zwei Exilanten zurück in ihre lettische Heimat führt.
Im Transitbereich eines Flughafens warten zwei Passagiere eng aneinander gelehnt auf die Durchsage zum Boarding. Das Stimmengewirr um sie herum lässt sie wie eine Insel in der Fremde wirken. Ein Junge mit wallendem Haar schält sich aus der Naheinstellung heraus. Er möchte aufbrechen, doch die ihn begleitende junge Frau bleibt im Halbschlaf in sich versunken. Vorsichtig testet er ihre fehlende Aufsicht aus und nähert sich den Erotikmagazinen eines Kiosks, die wie aus einer anderen Dimension auf ihn herabblicken. In einer spontanen Geste entwendet Kovas eines der Hefte, bevor er sich gemeinsam mit seiner Mutter Viktorija an Bord der Maschine und auf den Weg in ihre vormalige Heimat begibt.
Litauen hat die Zeit des Eisernen Vorhangs hinter sich gelassen, doch im Frühjahr 1992 ist das Nachleben der Sowjetunion noch deutlich zu spüren. Staunend blickt Kovas während der Autofahrt auf ein ihm fremdes Land, dessen Sprache er verinnerlicht hat, ohne eine Vorstellung vom dortigen Leben zu haben. Plattenbauten ragen mit eigenwilliger Schönheit in den strahlend blauen Himmel. Die Aufbruchstimmung der utopischen Architektur bildet einen eigenwilligen Gegensatz zum maroden Zerfall der Gebäude und Stadtstrukturen.
Verbotenes Erotikmagazin im Gepäck
Geboren und aufgewachsen ist Kovas mit seiner Familie in den Vereinigten Staaten; eine Herkunft, die bei jeder Gelegenheit für Aufsehen sorgt, nicht nur weil er einen Koffer voller Kaugummi mit sich führt. Seine Kleidung und die digitale Armbanduhr werden von den litauischen Mädchen neugierig beäugt, näherer Kontakt gestaltet sich jedoch schwierig. Meist sieht man den feminin wirkenden Jungen mit melancholischer Sehnsucht auf sie blicken, dabei bleibt er meist starr und handlungsunfähig. Es dauert nicht lange, bis Viktorija im Gepäck ihres Sohnes das verbotene Magazin entdeckt und empört entfernt, um es nur kurze Zeit später im Nebenzimmer lautstark mit ihren Bekannten zu betrachten.
Die übergriffige Nähe der Mutter wirkt zunehmend unheimlich, wenn sie Kovas auffordert, ihr die Haare zu kämmen, während sie mit beiläufiger Selbstverständlichkeit ihre Bluse aufknöpft. Sie scheint ihren Sohn kaum als eigenständiges Wesen wahrzunehmen. Als ständiger Begleiter bei Behördengängen oder beim Abendessen zu zweit im Kerzenschein nimmt Kovas eine Funktion ein, die ihn zunehmend in Konflikte bringt. Aus gedämpften Gesprächen hinter verschlossenen Türen reimt er sich zusammen, dass seine Eltern kurz vor der Scheidung stehen. Doch die resolute Viktorija verfolgt mit ihrem Aufenthalt in der Heimat eine eigene Agenda, in die ihr Sohn mitverstrickt ist.
Lyrische Töne, innere Monologe
Vor seinem Langfilmdebüt hat der litauische Regisseur Tomas Vengris Filmschnitt-Erfahrungen bei Terrence Malick und Kelly Reichardt gesammelt, was sich in der lyrischen Atmosphäre von „Motherland“ stark bemerkbar macht. An dem Punkt, wo sich Viktorija gemeinsam mit Kovas und ihrem Jugendschwarm Romas auf eine Reise durch das Land begibt, tritt die Handlung zugunsten sinnlicher Erfahrung zurück. Immer wieder ist aus dem Off die Stimme des Jungen zu hören, der, nur für den Zuschauer hörbar, in einem inneren Monolog die Lebensgeschichte seiner Mutter erzählt.
Die Tiefe seiner Betroffenheit lässt spüren, mit welcher Distanzlosigkeit er an ihren Traumata schon als kleines Kind teilhatte. Kovas erzählt von der Roten Armee, die Viktorijas Eltern von ihrem Landgut ins Arbeitslager verschleppte, aus dem sie nie zurückkehrten. Er erinnert sich an die Tage, in denen sich seine Mutter in der Scheune versteckte, als wäre er selbst dabei gewesen.
Jenes Landgut zurückzuerhalten, das damals an den Staat fiel, schält sich allmählich als Viktorijas Obsession heraus. Jetzt, wo der eiserne Vorhang gefallen ist und die Privatisierung ihren Lauf nimmt, hofft sie auf den Rückgewinn dessen, was sie einst verloren hat. Dabei wird immer klarer, dass die von ihr beschworene Heimat nichts als eine traumatische Fixierung ist.
Eine psychologisch schlüssige Charakterstudie
„Motherland“ entwirft eine psychologisch sehr schlüssige Charakterstudie, die als ödipaler Konflikt zwischen Mutter und Sohn beginnt, um dann den Fokus auf die transgenerationale Weitergabe erfahrener Diktaturgewalt zu verschieben. Während sich zunächst ein Eifersuchtsdrama anbahnt, da Viktorija sich auf eine Affäre mit Romas einlässt, erscheint Kovas unheimliche Bindung an seine Mutter zunehmend in einem anderen Licht. Seine Unfähigkeit, sie zu verlassen, um sich einer eigenen Zukunft zuzuwenden, spiegelt sich in ihrem zwanghaften Festhalten an einem Stück Land, das sie mit Gewalt zurückzuerobern versucht. Ihr Sohn wird zu einem Container des unverarbeiteten Traumas, das er als verlorene Heimat in sich bewahren muss.
Allerdings verlässt sich die Inszenierung stellenweise zu sehr auf stimmungsvolle Landschaftsaufnahmen des dörflichen Litauens, was sich zu Lasten der Gesamtdramaturgie von „Motherland“ auswirkt. Nicht immer wirken die malerischen Einstellungen so ausdrucksstark wie beabsichtigt. Dennoch vermittelt der Film vor allem dank seiner charismatischen Hauptdarstellerin eindrucksvoll das Nachleben der sowjetischen Besatzung in den sozialen Beziehungen der Menschen des Baltikums.