Wenn John die Treppen der langen Aluminiumleiter hinaufsteigt, um seinem Beruf als Fensterputzer nachzugehen, öffnet sich hinter jeder Scheibe eine neue Welt. Fremde Wohnungen erzählen Geschichten, werden zu Panoramen einer nordirischen Kleinstadt, von einfachen, aber beschaulichen Lebensverhältnissen. Für John, dessen Existenz sich am sozialen Rand der Armut abspielt, sind es Sehnsuchtsorte, in die er täglich blickt, vor allem die Kinderzimmer. Die mürrische Zurückgezogenheit seines kleinen Sohnes Michael ruft in ihm die Angst wach, nicht zu genügen.
Schon kurz nach der Geburt hat die Mutter das gemeinsame Kind Johns alleiniger Obhut überlassen, um für immer zu verschwinden. Der Alleinerziehende bestreitet den Alltag mit dem ruhigen Vierjährigen in eingespielter Routine, aber immer in Sorge, das fehlende Elternteil nicht ersetzen zu können. Wenn er Michael in den Kindergarten bringt und die Abschiedsküsse der anderen Mütter sieht, zieht sich ihm das Herz zusammen.
Das erklärt sich umso mehr durch die Tablettenschachteln im Badezimmerschrank, die John vor seinem Sohn versteckt. Noch lässt sich die Chemotherapie, die er während Michaels Betreuungszeit erhält, unauffällig in das gemeinsame Leben integrieren. Aber die Ärzte machen ihm keine Hoffnungen. Die wenigen Monate, die ihm aufgrund der Krebserkrankung nur noch bleiben, laufen ab, und die Zukunft seines Kindes ist damit ungewiss.
Familiäre Zukunftsprojektionen
John will die Zeit nutzen, um wenigstens eine Adoptivfamilie zu finden, die er selbst bestimmen kann. Eine mitfühlende Mitarbeiterin vom Jugendamt macht für ihn eine Ausnahme. Gemeinsam mit ihr darf er in einem beschleunigten Verfahren die Gespräche mit den potenziellen Eltern führen. Doch die richtigen Auswahlkriterien erweisen sich als schwerer als gedacht. Und da John es in seiner Hilflosigkeit nicht fertigbringt, dem Kind von seinem nahenden Tod zu berichten, wird das Unausgesprochene zwischen Vater und Sohn immer drängender.
Der in England lebende Regisseur Uberto Pasolini hat mit „Nowhere Special“ ein zärtliches, poetisch inszeniertes Drama entwickelt, das auf einem wahren Fall basiert. In der Zeitung stieß Pasolini auf die Annonce eines alleinerziehenden Vaters, der in jungen Jahren unheilbar erkrankt war und um Zuschriften von möglichen Pflegefamilien bat. Die Geschichte rührte Pasolini und bewegte ihn dazu, ein Drehbuch zu schreiben, das die Frage nach der Zukunft, die man den eigenen Kindern wünscht, in ihrer Vielschichtigkeit zeigt.
Dient die Vorstellung, dass es ihnen besser ergehen soll als einem selbst, wirklich den Nachkommen oder ist sie nicht vielmehr Ausdruck der elterlichen Unversöhntheit mit der eigenen Lebensgeschichte? In „Nowhere Special“ hadert John so sehr mit seinem gesellschaftlichen Status, dass er sich nicht einmal vorstellen kann, dass sein Sohn ihn vermissen würde. In seinen Augen gibt es nichts von Wert, dass er Michael hinterlassen könnte. Doch der Besuch bei einer gutsituierten Pflegefamilie bringt überraschende Zweifel. Der kleine Junge zeigt sich wenig beeindruckt von dem großen Haus mit Garten und bekräftigt seine Zufriedenheit mit der kleinen Wohnung, die er mit seinem Vater teilt. Nach welchen Maßgaben soll John also entscheiden, was das Beste für seinen Sohn ist?
Das Gemeinsame bleibt
Michael spürt, dass etwas Bedrohliches im Gange ist, und beginnt immer mehr Fragen zu stellen, die John in Erklärungsnot bringen. Als der Blick des Jungen auf einen regungslosen Käfer am Spielplatzrand fällt, ergibt sich ganz beiläufig ein Gespräch über das Leben nach dem Tod. Mit diesem Thema steht John auf dem Kriegsfuß, da er seit seiner schweren Kindheit im Pflegeheim kein Gottesvertrauen kennt. Eine ältere Dame, bei der er regelmäßig die Fenster putzt, schenkt ihm allerdings Hoffnung. Sie erzählt vom schmerzhaften Verlust ihres Mannes, für den die Welt in seinen letzten Tagen wie erleuchtet gewirkt habe. Eine Erfahrung, die John aus seiner Perspektive nicht bestätigen kann. Aber er beginnt zu verstehen, dass es für die Hinterbliebenen wichtig ist, diese Sinnhaftigkeit mit dem, der geht, zu teilen. Nicht aus der Gewissheit eines ewigen Lebens heraus, sondern in dem tiefen Wunsch, die Verbindung mit dem geliebten Menschen auch über den Tod hinaus aufrechterhalten zu können. Deshalb beginnt John schließlich doch eine Box voller Erinnerungen für Michael zusammenzustellen.
Unaufdringlich und ohne falsche Sentimentalität gelingt es Uberto Pasolini, vom Tode her eine Geschichte über das augenblickliche Glück des Lebens zu erzählen. Die Strahlkraft seiner beiden Protagonisten, vor allem des herausragenden Kinderdarstellers Daniel Lamont, ruft Meisterwerke wie Vittorio de Sicas „Fahrraddiebe“ ins Gedächtnis. Auch in „Nowhere Special“ ist es die soziale Scham des Vaters über seine prekären Lebensumstände, die ihn zunächst übersehen lässt, wie viel wichtiger eine gemeinsame, aufrichtig geteilte Welt für seinen Sohn ist.
Pasolini entwickelt diese Erkenntnis ohne große Worte durch das intensive Zusammenspiel der beiden Darsteller. Wenn der Vierjährige mit rührender Mühe den erschöpften Körper seines Vaters auf der Couch zudeckt, lassen sich Tränen kaum zurückhalten. Zugleich ist es wunderschön mitansehen, wie die kleinen Gesten und Blicke zwischen den beiden von einer neu entdeckten Verbundenheit erzählen, die den unvermeidlichen Abschied überwindet.