Love After Love (2020)
Historienfilm | China 2020 | 144 Minuten
Regie: Ann Hui
Filmdaten
- Originaltitel
- DI YI LU XIANG
- Produktionsland
- China
- Produktionsjahr
- 2020
- Produktionsfirma
- Alibaba Pic./Hehe Pic./Bluebird Film
- Regie
- Ann Hui
- Buch
- Wang Anyi
- Kamera
- Christopher Doyle
- Musik
- Ryuichi Sakamoto
- Schnitt
- Mary Stephen
- Darsteller
- Sandra Ma (Ge Weilong) · Eddie Peng (George Chiao) · Faye Yu (Madame Liang) · Ning Chang (Ni'er) · Fan Wei (Onkel Situ)
- Länge
- 144 Minuten
- Kinostart
- -
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 16.
- Genre
- Historienfilm | Literaturverfilmung | Melodram
Ein Melodram um eine junge Frau, die im Hongkong der 1930er neue Freiheiten entdeckt und in neue Abhängigkeiten zu geraten droht.
„Ich kann dir nicht die Ehe versprechen, und auch nicht die Liebe“, sagt George während eines Ausflugs ins Grüne zu Weilong, die mit ihm eine Affäre begonnen hat. Und er fährt fort: „Was ich dir aber versprechen kann, ist, dich glücklich zu machen.“ Es sind die richtigen Worte für die Situation: Sie trägt ein luftiges, geblümtes Sommerkleid, er eine schicke Verführer-Sonnenbrille, im Hintergrund eine spektakuläre Naturkulisse… Ein Genuss ohne Reue und ohne Verpflichtungen scheint zum Greifen nahe, und doch weiß Weilong, dass sie sich, wenn sie sich nach kurzem Zögern, vor Erregung und Angst schluchzend, an Georges Brust wirft, einer Illusion hingibt – weil in der Welt, in die sie nun einmal hereingeboren wurde, Ehe, Liebe und (nicht nur, aber unbedingt auch: sexuelles) Glück im Allgemeinen weit enger ineinander verzahnt sind, als es ihr in der nach allen Regeln des überlebensgroßen Gefühlskinos hochgepeitschten Umarmung eines charmanten Lebemannes momenthaft erscheinen mag.
Menschen verkörpern Geschichte
Bereits zum dritten Mal adaptiert Ann Hui mit „Love After Love“ eine literarische Vorlage der Schriftstellerin Eileen Chan, in der die Regisseurin, so steht zu vermuten, eine verwandte Seele erkennt: Wie in Huis Filmen geht es in Chans Geschichten, Novellen und Romanen um die biografischen und emotionalen Spuren der (insbesondere chinesischen) Geschichte. Entscheidend ist dabei, für die Regisseurin genau wie für die Autorin, dass Geschichte nicht als etwas den Menschen Äußerliches erscheint, etwas, das an ihnen vollzogen wird; sondern dass umgekehrt die Menschen und ihre Schicksale als Verkörperungen, und zwar als die einzigen möglichen Verkörperungen, von Geschichte sichtbar werden.
Im Fall von „Love After Love“, basierend auf der Kurzgeschichte „Aloeswood Incense: The First Brazier“, heißt das konkret: Was wir sehen, sind Körper, die einen Prozess der rapiden, unreflektierten und von einer größtenteils unsichtbaren Geschichte der Gewalt begleiteten Prozess der Modernisierung durchlaufen. Die Handlung ist im Hongkong der späten 1930er-Jahre angesiedelt – in einer letzten Phase des Friedens, bevor erst der Zweite Weltkrieg und in der Folge die Gründung der Volksrepublik China die bis dahin im Großen und Ganzen der Weltpolitik eher wenig beachtete britische Kronkolonie in ihren Grundfesten erschüttern.
Libertinage im kolonialen Hongkong
Wenn sie zu Filmbeginn bei ihrer Tante eintrifft, in der Hoffnung auf einen guten Bildungsabschluss in der Großstadt und den anschließenden gesellschaftlichen Aufstieg, ist die Hauptfigur Weilong noch ein schüchternes Mädchen vom Lande, traditionell gekleidet und gewohnt, älteren Familienmitgliedern und Männern gegenüber unterwürfig aufzutreten. Freilich erkennt sie schnell, dass im Anwesen von Madame Liang andere Regeln gelten: Hier geht die gesellschaftliche Elite des kolonialen Hongkongs ein und aus, insbesondere die jungen, vergnügungssüchtigen It-Girls und -Boys der Zeit. Die Zwänge und die strikte, patriarchale Formalität der konfuzianistischen Familienordnung werden ersetzt durch ein Lustprinzip, das für die beteiligten Individuen einen Zugewinn an Freiheit bringt, aber gleichzeitig von neuen, anderen Formen der Macht und des Machtmissbrauchs geprägt ist.
Die alten, starren Hierarchien verlieren ihre Macht über die Menschen – selbst die Hausmädchen der Tante beteiligen sich selbstbewusst am erotischen Treiben – nur, um durch ein anderes, zwar fluideres und in Maßen formbares, im Resultat aber oft nicht weniger schmerzhaftes Zwangssystem ersetzt zu werden.
Überschäumen ist Programm
Es geht in diesem neuen System um Gefühle, Geld und immer noch um Geschlecht. Die Freiheit im Hause Liang ist für Frauen mindestens genauso verlockend wie für Männer, und doch ist auch dieser kokonhaften, sozial wattierten Libertinage eine Geschlechterdifferenz eingeschrieben. So spielerisch und lässig wie George wagt es zum Beispiel keine seiner Gespielinnen, ihren Körper in Szene zu setzen. Etwa, wenn der von dem großartig aufgelegten Eddie Peng mit jeder Menge jugendlichem Glamour verkörperte George Weilong und einer Hausangestellten mit charmanter Ungeschicktheit Sekt einschenkt und danach selbst einen Schluck direkt aus der Flasche nimmt. Überschäumen ist für ihn Programm, in jeder Hinsicht. Den Frauen um ihn herum bleibt nur, sich an ihren Sektgläsern festzuklammern.
George verfügt über die sexuelle Macht, Weilongs Tante Liang, deren narzisstische Allüren nicht über ihre Verletzlichkeit (oder bereits Verletztheit?) hinwegtäuschen können, über die ökonomische. Um zwischen beiden nicht zerrieben zu werden, muss sich Weilong auf ein Intrigenspiel einlassen, dass sie am Ende doch wieder in eine Abhängigkeit zurückwerfen wird, die derjenigen ähnelt, der sie mit der Flucht vor ihrer eigenen, traditionellen Familie zu entkommen können geglaubt hatte.
Ernüchterung hinter der Hochglanz-Fassade
Es ist eine bittere, ernüchternde Geschichte, die Hui erzählt – in Bildern freilich, und eben darin zeigt sich die eigensinnige Kraft des Kinos von Ann Hui, denen diese Ernüchterung zunächst einmal gar nicht anzusehen ist. „Love After Love“ ist ein Film der spektakulären Oberflächen: schöne, junge Körper in exklusiven Dekors; melodramatisch überhöhte Gefühle, dynamisch in Szene gesetzt von einer agilen, flüssigen Kamera (ganz in seinem Element: Christopher Doyle) und untermalt von einem klassizistischen Ryuichi-Sakamoto-Score; Hochglanzsex, der bisweilen fast an die „Emmanuelle“-Erotik der 1970er-Jahre erinnert…
Keineswegs geht es der Regisseurin darum, Schönheit und Glamour als bloßen Schein zu desavouieren; oder gar das Verlangen der Hauptfigur nach diesem Schein zu kritisieren. Vielmehr ist der Film einer tiefen Traurigkeit auf der Spur, die damit zu tun hat, dass die Welt die Versprechen, die sie den Menschen macht und die allein das Leben lebenswert machen, so selten einlösen kann.