Vierundvierzig Jahre Knast

Dokumentarfilm | Deutschland 2019 | 95 Minuten

Regie: Kai von Westerman

44 Jahre lang hat Ingeborg von Westerman in der Justizvollzugsanstalt Rheinbach ehrenamtlich Gefangene betreut. Vor der Kamera ihres Sohnes erzählt die betagte Seniorin von ihrem Einsatz für die Straftäter, wobei vor allem Schicksale von zwei Inhaftierten großen Raum einnehmen. Zwischendurch erinnert sie sich, wie sie als Kind am Ende des Zweiten Weltkriegs aus ihrer Heimat Riga nach Deutschland flüchtete. Der intime Film setzt dabei ganz auf die Präsenz seiner vitalen Protagonistin, der man bereitwillig zuhört. - Ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2019
Produktionsfirma
Westermans Filme
Regie
Kai von Westerman
Buch
Agnieszka Karas
Kamera
Kai von Westerman
Musik
Ursel Quinn · Barry L. Roshto
Schnitt
Kai von Westerman
Länge
95 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm

Dokumentarfilm über Ingeborg von Westerman, die fast ihr halbes Leben lang Gefangene im Knast besucht hat.

Diskussion

44 Jahre Gefängnis. Das ist fast eine Unendlichkeit. Nach gängiger Praxis macht das fast drei Mal lebenslänglich. Da muss man schon einiges auf dem Kerbholz haben, um zu solch einer Strafe verdonnert zu werden. Doch Ingeborg von Westerman ist nie mit dem Gesetz in Konflikt gekommen. Ins Gefängnis ist sie immer freiwillig gegangen. 44 Jahre lang hat sie ehrenamtlich Gefangene in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Rheinbach in der Nähe von Bonn betreut.

Die betagte Frau sitzt in ihrem Eigenheim und erinnert sich, wie alles anfing. Eine Nachbarin habe erzählt, dass der örtliche Pfarrer Menschen suche, die bereit wären, sich um Gefangene zu kümmern, die keinerlei Kontakt zu Angehörigen hätten. Natürlich habe sie kurz überlegt, ob das vielleicht gefährlich wäre, weil entlassene oder gar entflohene Straftäter plötzlich in Rheinbach vor ihrer Wohnungstür stehen könnten. Lebhaft erinnert sich Westerman noch an ihren ersten Besuch im Jahr 1974 und die merkwürdig hallige Geräuschkulisse des Durchschließens, wenn eine Tür, durch die man gerade gegangen ist, hinter einem wieder verriegelt wird, ehe sich die nächste öffnet.

Schwere Kindheit, falsche Freunde

Dann ist die fast 90-jährige Frau in ihren Erinnerungen auch schon bei Wolfgang, einem wegen Mordes an einer jungen Frau verurteilten Gefangenen, den sie bis zu seiner Entlassung einmal im Monat besucht hat. Sie erzählt von einem schüchternen, zurückhaltenden jungen Mann, dem sie anfangs einfach nur zugehört habe. Sehr detailliert berichtet sie dann über die Biografie des Gefangenen, von seiner schweren Kindheit, einer unglücklichen Liebe und falschen Freunden.

So wie sie damals einem verurteilten Mörder vorurteilsfrei gegenübertrat, spricht die Seniorin auch heute noch über ihn. Und spart dabei auch nicht mit Kritik am gängigen Strafvollzug. Oberstes Ziel müsse es doch sein, die Gefangenen vor Rückfällen zu bewahren. Deshalb sei es mit Wegschließen nicht getan.

Es gibt auch Filmbilder von Wolfgang. Bei einem Freigang mit seiner Betreuerin kurz vor seiner Entlassung war Westermans Sohn Kai mit dabei und hielt den Spaziergang durch Rheinbach mit der Kamera fest. Nach Wolfgang kümmerte sich Ingeborg von Westerman um den Hochstapler und Betrüger Udo, den sie auch zu Weihnachten zu sich nach Hause einlud und dabei feststellte, dass er eine handfeste „Weihnachts-Allergie“ hatte, die aus traumatischen Kindheitserlebnissen herrührte.

Riga, Kopenhagen, Rheinbach

Zwischen die Erzählungen aus dem Gefängnisalltag werden Sequenzen geschnitten, in denen sich die betagte Protagonistin an ihre dramatische Flucht aus ihrer Heimatstadt Riga erinnert. Kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges floh sie mit Mutter und Schwester auf einem Flüchtlingsschiff mit unbekanntem Ziel und landete schließlich in Kopenhagen, wo sie drei Jahre in einem Lager zubrachte, ehe die Familie nach Schwaben und schließlich nach Rheinbach gelangte.

Der Dokumentarfilm ist ganz auf die zum Zeitpunkt des Drehs 89-jährige Frau zugeschnitten. Die meiste Zeit sitzt sie daheim in ihrem Sessel und erzählt aus ihrem Leben. Das ist filmisch unspektakulär, doch die Berichte der lebensklugen Frau mit dem Kurzhaarschnitt und der Hornbrille sind durchweg bewegend. Zumal sie zwischendurch immer wieder verschmitzt lächelt, wenn sie etwa erklärt, was ein sauberer (Ein-)Bruch ist.

„Soll ich das jetzt erzählen?“

25 Stunden lang hat der Filmemacher Kai von Westerman seine Mutter vor der Kamera erzählen lassen. So ist die Dokumentation nicht zuletzt ein Familienfilm. Zur Auflockerung der mehr oder minder statischen Einstellungen sieht man die Protagonistin mal bei häuslichen Verrichtungen, mal bei der Gartenarbeit oder einem Stadtbummel. Da sie gelernte Grafikerin ist, fertigt sie während des Redens gelegentlich auch Kreidezeichnungen von Wolfgang oder den Baracken im dänischen Lager an.

Das Wesentliche sind jedoch ihre Erinnerungen, auch wenn sie zwischendurch auch mal fragt: „Soll ich das jetzt erzählen?“ Etwas zu kurz kommt das Eigenleben der Seniorin. Während man so viel über die von ihr betreuten Gefangenen erfährt, bleibt weitgehend im Dunklen, woraus ihr Leben abseits des Ehrenamtes in all den Jahrzehnten bestand und was sie sonst so umgetrieben hat. Aber womöglich fand sie ihren Alltag in all ihrer Bescheidenheit einfach nicht der Rede wert.

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