Dokumentarfilm | Deutschland 2019 | 102 Minuten

Regie: Tim Boehme

Ein Mann, der als Kind einer Alkoholikerin mit Defiziten auf die Welt kam und bei Pflegeeltern und in Heimen aufwuchs, macht sich zusammen mit einem Freund auf den Weg, um seine Geburtsstadt aufzusuchen und sich seiner Vergangenheit zu stellen. Er geht zum Grab seiner Mutter und nimmt Kontakt mit seinem Verwandten auf. Eine berührende, lässig erzählte Heimfindung in familiäre Bezüge, die emotional tief beeindruckt und die Protagonisten zu keiner Zeit einer thematischen Argumentation unterordnet. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2019
Produktionsfirma
ToB Filmproduktion
Regie
Tim Boehme
Buch
Tim Boehme
Kamera
Tim Boehme
Musik
Achim Treu
Schnitt
Omar Sultan
Länge
102 Minuten
Kinostart
24.09.2020
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Doku über einen Mann, der als Kind einer Alkoholikerin mit Defiziten auf die Welt kam und in Heimen aufwuchs. Nach dem Tod der Mutter findet er mit Hilfe eines Freundes den Mut, sich seiner Vergangenheit zu stellen.

Diskussion

„Ja, es nervt schon, wenn ich zwar die Buchstaben sehe – sie aber nicht zusammenkriege.“ Bernd sitzt in der S-Bahn und versucht vergeblich, die Stationsanzeige zu entziffern: „Da bin ich manchmal auch ein bisschen stinkig auf meine Mutter, warum die mich so in die Welt gesetzt hat, warum sie mich nicht gleich im Bauch getötet hat – so hart sich das auch anhört!“ Ja, es hört sich hart an, was Bernd Thiele gleich in der ersten Szene ausspricht, doch er kann sich von solchen Momenten der Bitterkeit und Verzweiflung rasch auch wieder freimachen. Die Reise, die er antritt, dient der Suche nach familiärer Zugehörigkeit und nimmt wie ein abenteuerliches Road Movie Fahrt auf.

Bernds Mutter hatte ein Alkoholproblem. Weil sie auch während der Schwangerschaft nicht von ihrer Sucht lassen konnte, zeigte sich beim Kind ein „pränatales Alkoholsyndrom“. Die Entwicklung bestimmter Gehirnregionen war blockiert. Das führte dazu, dass Bernd nicht Lesen und Schreiben lernte. Schon im Kleinkindalter wurde er der Mutter weggenommen und wuchs in Kinderheimen und bei Pflegeeltern auf. Seit seinem Schulabschluss lebt er auf dem Hof Sophienlust in Schleswig-Holstein: ein Bio-Bauernhof, der zugleich als therapeutische Einrichtung „geistig Behinderten“ Arbeit und Heimstatt bietet. Bernd: „Das Wort ‚Behinderung‘ – man kann es ja nicht totschweigen, es ist ja so, es ist auch gar nicht schlimm, wenn man das Wort benutzt, es kommt immer darauf an, wie man das von außerhalb sieht!“

Die Angst, ein Klon zu sein

Bei der Arbeit an einer Reportage über den Hof hat der Filmemacher Tim Boehme den damals 34-jährigen Thiele kennengelernt. Auffällig war, dass Thiele keinen einzigen verwandtschaftlichen Kontakt oder Bezug hatte und deshalb immer davon redete, vielleicht ein Klon zu sein: „Manchmal denk’ ich, ich bin geklont, dass ich vielleicht aus einer Fabrik komme, einem Labor, dass ich gar kein echter Mensch bin!“ Die Fragen nach seinen familiären Zusammenhängen waren unbeantwortet: Lebt seine Mutter noch? Wenn ja, wo? Gibt es die Stiefschwester, von der er gehört hatte? Müssten da nicht noch Onkel, Tanten, Nichten und Neffen sein?

So entstand die Idee zu dieser „Heimreise“ der besonderen Art, bei der Thiele vom Filmteam und seinem Kumpel Joann begleitet wird. Joann ist technisch begabt, kann mit einem Handy umgehen und ist immer zu Scherzen aufgelegt. Bei aller Schicksalstragik, die zur Sprache kommt, entpuppt sich die Reise als überraschend vergnüglich und kurzweilig. Garant dafür ist der Charme des Bernd-Joann-Duos. Die beiden haben ihren eigenen, frischen Blick auf die Welt, der auch dem Zuschauer die Augen neu öffnet. Thiele kann seinen Empfindungen sehr gut Ausdruck verleihen und ist seinen eigenen Gefühlen gegenüber von einer Wahrhaftigkeit, die verblüfft und überzeugt.

Bei Veranstaltungen zum Thema Inklusion lässt sich „Die Heimreise“ zwar gut einsetzen, aber es ist kein Themenfilm in dem Sinn, dass die Protagonisten einem thematischen Argumentieren untergeordnet wären. Regisseur Tim Boehme schenkt Bernd und Joann seine ganze Aufmerksamkeit und Sympathie als eigensinnige Personen; er hat ein genaues Gespür für die Chemie der beiden, für ihre Rituale, wie sie sich necken und foppen, wie sie einander helfen und sich bei Laune halten. In Hamburg bekommen die beiden auf der Reeperbahn eine „Milieu-Führung“, bei der Bernd im Blick auf die Prostituierten nur knapp bemerkt: „Man darf sich nicht in die verlieben – ist doch so?!“

Was eine Reise alles bewirken kann

Dann geht es weiter nach Berlin. Auch wenn ein Detektiv abspringt, weil er nichts mit „Betreuten“ zu tun haben will, erhalten Bernd und Joann von Passanten, in Kneipen oder vom Personen-Suchdienst viel Hilfe und Beistand, sodass sich die Suche schließlich erstaunlich erfolgreich gestaltet. Die Mutter ist zwar bereits verstorben, aber es kommt zu rührenden, tief bewegenden Begegnungen mit zwei Onkeln.

Eingeschoben in die aktuelle Reiseroute sind einige Szenen vom Bauernhof aus der Zeit vor der Abreise. Da zeigt Bernd einmal sein Zimmer, seinen „privaten Rückzugsraum“, und erklärt, warum das Poster an der Wand mit Leonardo da Vincis „Abendmahl“ für ihn so wichtig sei: es habe eine besondere Ausstrahlung; er selbst sei zwar nicht richtig religiös, aber in schwierigen Lebenssituationen wäre das dann doch wieder anders.

„Beobachten Sie einmal Bernds Körpersprache“, sagte Tim Boehme, als er den Film beim Dokfest München vorstellte, „da kann man sehen, wie er sich in den frühen Aufnahmen vergleichsweise steif und hölzern bewegt, dann aber immer freier wird, immer lockerer und selbstbewusster.“ Thieles wachsendes Selbstbewusstsein bezeugt besonders schön das Gelingen dieser wunderbaren Heimfindungs-Reise.

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