Drama | Dänemark/Deutschland 2019 | 87 Minuten

Regie: Anna Sofie Hartmann

Auf der dänischen Insel Lolland dokumentiert eine Ethnologin die Geschichten jener Orte und Existenzen, die einem bevorstehenden Tunnelbau nach Deutschland weichen müssen. Während ihrer Arbeit beginnt sie eine Affäre mit einem jungen polnischen Bauarbeiter, der nach wochenlangen Arbeiten ohne Lohn dasteht. Bemerkenswerter, präzise und aufmerksam inszenierter Film mit realen und fiktiven Geschichten, die zu einer losen Erzählung über Verlust und die Flüchtigkeit von Begegnungen zusammengewebt werden. Vor allem in der Liebesgeschichte auch zärtlich, schwingt in den dokumentarischen Passagen ein leicht bitterer Tonfall mit. - Sehenswert ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Produktionsland
Dänemark/Deutschland
Produktionsjahr
2019
Produktionsfirma
Komplizen Film/Profile Pict.
Regie
Anna Sofie Hartmann
Buch
Anna Sofie Hartmann
Kamera
Jenny Lou Ziegel
Schnitt
Sofie Steenberger
Darsteller
Lisa Loven Kongsli (Dara) · Maren Eggert (Käthe) · Jakub Gierszal (Lucek) · Mariusz Feldman (Mariusz) · Przemyslaw Mazurek (Przemyslaw)
Länge
87 Minuten
Kinostart
06.08.2020
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama

Bemerkenswert vielschichtige Erzählung von einer Ethnologin, die auf einer dänischen Insel Geschichten und Zeugnisse der Orte und Menschen sammelt, die einem Tunnelbau weichen müssen.

Diskussion

Es gehe um Orte und Erinnerungen, erklärt Dara dem jungen polnischen Arbeiter Lucek auf seine Frage, um was es in dem Buch gehe. Die vorübergehend auf der süddänischen Insel Lolland arbeitende Ethnologin hat Rebecca Solnits Wegweiser „A Field Guide to Getting Lost“ mit an den Strand gebracht – eine passende Lektüre nicht nur zu ihrem Forschungsprojekt, sondern auch zu ihrer eigenen Lebenssituation als Durchreisende, die sich eine Auszeit vom akademischen Umfeld in Berlin nimmt. „Vielleicht ist es so, dass man die Zeit nicht zurückdrehen kann. Aber man kann zurückkehren an die Orte einer Liebe... Die Orte sind es, die verbleiben, die man besitzen kann und die am Ende von einem Besitz ergreifen“, liest sie dem bis über beide Ohren verliebten Lucek vor.

Der Text ist ein Nachhall der leeren, ausgeweideten Räume und zurückgelassenen Objekte, die der Film „Giraffe“ immer wieder zeigt, ein Nachhall auch der Stimmen, die von Verlust und Vergänglichkeit erzählen. Dara ist als Mitarbeiterin eines Museums in ihre alte Heimat zurückgekommen. Ihre Aufgabe ist es, die Geschichten und Zeugnisse jener Orte und Existenzen zu dokumentieren, die es durch den Bau eines Tunnels zwischen Lolland und Deutschland bald nicht mehr geben wird. Lucek, mit dem die um einiges ältere Frau eine Affäre begonnen hat, hat anders als sie nicht die Freiheit, auf eine so erbauliche Weise über Erfahrungen von Verlust und Sich-Verlieren nachzudenken. Nach wochenlangen Arbeiten an einem Faserkabelnetz für ein Sub-Sub-Subunternehmen steht er am Ende ohne Lohn da.

Loses Geflecht um Ökonomie, Migration und den Verlust von Lebenswelten

Die Filmemacherin Anna Sofie Hartmann webt in ihrem Film ein loses Geflecht aus Geschichten, Bildern und Stimmen. Sie bewegen sich im weitverzweigten Zusammenhang von Ökonomie, Arbeitsmigration und dem Verlust von Lebenswelten, ohne eines dieser Themen explizit auszuformulieren. So präzise die Bilder der Kamerafrau Jenny Lou Ziegel sind, so aufmerksam für das Zusammenspiel von Körper und Raum, für Stimmungen und Licht: der Ton des Films ist unbestimmt, vage, immer leicht „dazwischen“ – auch zwischen Dokumentation, fiktionalem Drama und essayistischer Betrachtung.

„Giraffe“ – der Film beginnt tatsächlich mit den Bildern einer Giraffe, die ihren langen Hals ins Bild reckt und dabei in die Kamera blickt – ist vor allem ein Werk der Beobachtung und der Beobachtung von Beobachtung. Man sieht Dara viel beim Schauen und Sichten von Material, sie macht Fotos, katalogisiert, recherchiert in der Bibliothek. Ihr Blick ist einer von außen, vielleicht mehr von Interesse und Neugierde geleitet als von Verstricktheit in die Sache. Selbst wenn sie Lucek immer wieder anstarrt, sich von seiner Schönheit verzaubern lässt, schwingt eine Spur staunender Distanz mit. Hartmanns Beobachtungsmodus ist dem ihrer sammelnden und ordnenden Protagonistin nicht unähnlich – etwa wenn sie die Gesichter der örtlichen Bauern und polnischen Arbeiter in Form von Porträtaufnahmen in den Blick nimmt wie zuvor ein paar Holzlöffel oder ein Nadelkissen. Käthe, die auf der Fähre arbeitet, ist eine weitere Beobachterin, aber auf noch mal ganz eigenwillige Art. Sie betrachtet die Reisenden und denkt sich ihre Geschichten dazu.

Es setzt ein wie ein Dokumentarfilm

„Nichts scheint die Verbindung zwischen Dänemark und Deutschland mehr stoppen zu können“, orakelt eine Stimme aus dem Radio über den Fehmarnbelt Fixed Link, dessen Inbetriebnahme, so vermeldet Wikipedia, auf das Jahr 2028 anberaumt ist. „Giraffe“ setzt ein wie ein Dokumentarfilm. Ein Ehepaar, das seinen Hof über drei Generationen betrieben hat, muss sein Zuhause verlassen, die Autobahn geht mitten durchs Grundstück. Dara lässt das Tonband mitlaufen, die Erzählung der Frau erstickt in den Tränen. In einem Haus, das bereits vor fünfzehn Jahren verlassen wurde, findet die Ethnologin das Tagebuch der Bibliothekarin Agnes Sørenson und forscht nach ihren Spuren.

Ansichten ihrer verlassenen Räume füllen sich mit Beschreibungen eines Lebens, das längst der Vergangenheit angehört: Aufzeichnungen zum Wetter, zu täglichen Routinen und Besuchen, zwei Männer sind im Spiel, Dara liest aus dem Off. Daneben der Alltag der Bauarbeiter, die sich zu zweit ein Zimmer teilen: Wäschewaschen, Skypen mit der Familie in der polnischen Heimat, Zusammensitzen und Trinken. Lucek, verkörpert von einem Schauspieler (Jakub Gierszał) unter realen Arbeitern, löst sich aus dem Rahmen des Dokumentarischen. Seine Geschichte mit der Forscherin ist zärtlich und zugewandt, hat aber auch die Züge eines unterdrückten Klassenmelodrams.

Ein Hang zum Feierlichen, aber auch etwas Bitterkeit

Dara scheint sich bei allem melancholischen Ziehen wohlzufühlen in den sie umgebenden Flüchtigkeiten, und mitunter richtet sich auch Hartmann ein wenig zu sehr darin ein – „Giraffe“ hat bei aller Schönheit einen Hang zum Feierlichen. In der Erkenntnis, dass das „Getting Lost“ für die einen ein Zugewinn ist, wo die anderen emotionale, ökonomische und kulturelle Verluste zu tragen haben, schwingt jedoch auch etwas Bitteres mit.

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