"Rot" ist die dritte und letzte Farbe in Kieslowskis "republikanischer" Trilogie: dem "Blau" der Freiheit
(fd 30 507) und dem "Weiß" der Gleichheit
(fd 30 685) folgt nun das "Rot" der Brüderlichkeit. Der "brüderliche" Mensch ist in diesem Falle allerdmgs eine Schwester: Die junge Studentin Valentine tut Gutes in Genf. Valentine, mit sanfter Intensität gespielt von Irene Jacob, befindet sich in einer Zwischenphase ihres Lebens. Zwar weiß sie schon ungefähr, was sie kann und will, doch wie ihre Zukunft genau aussehen soll, vermag sie noch nicht zu sagen. Wird sie ihren Nebenjob als Fotomodell eines Tages zum Beruf machen? Wird sie mit ihrem Freund, der zur Zeit in England arbeitet, eine Familie gründen und glücklich sein? Oder gibt es noch andere Möglichkeiten, die offenstehen?Sensibel und aufmerksam geht Valentine durch die Welt, verletzlich und unsicher manchmal, aber dann doch wieder mit sicherem Instinkt für das, was gut und richtig ist. Eines Tages nimmt Valentines Leben eine Wendung. Grund ist ein Akt des Mitleids: Nachdem sie einen Hund angefahren hat, kümmert sie sich um das verletzte Tier. Und sie macht den Besitzer des Hundes ausfindig, der sich jedoch kalt und gleichgültig zeigt: Der alte Richter (Jean-Luis Trintignant in einer Grandseigneur-Rolle) lebt allein und abgeschieden von der Welt in seinem Haus am Rande der Stadt, ein verbitterter Menschenfeind, ein böser Zyniker. Was Valentine jedoch am meisten empört, ist das kuriose "Hobby" des Richters, der die Telefone seiner Nachbarn anzapft und die Privatgespräche auf Band aufzeichnet.Die Studentin und der Richter, naive Jugend und reifes Alter, wachsendes Leben und versteinerte Erfahrung, Offenheit und Rückzug, Engagement und Resignation, Moral und Nihilismus: um diese Kontrastpaare hat Kieslowski seinen Film gebaut. Valentine und der Richter kommen einander näher, eine Freundschaft entsteht, in deren Verlauf beide voneinander lernen. Der Richter weckt bei dem Mädchen ein Bewußtsein für das Unabänderliche: Die Welt und die Menschen sind nur in beschränktem Umfang zu verbessern. Umgekehrt löst der Dialog mit Valentine den Richter allmählich aus seiner Erstarrung und gibt ihm Mut, sein selbstgewähltes Asyl zu verlassen: Die Welt und die Menschen sind es wert, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Ein herbstlicher Glanz aus Rot-, Braun- und Gelbtönen liegt über diesen Begegnungen, wie ja auch der Richter sich im Herbst seines Daseins befindet, wo das Leben sich langsam zurückzieht, um im Innern zu überwintern. Und selbstverständlich ist Rot die Signalfarbe des Films, den Kieslowski - konsequenter noch als die beiden vorherigen Teile der Trilogie - gemeinsam mit seinem Kameramann Piotr Sobocinski und dem ziemlich genialen Ausstatter Claude Lenoir zu einem Musterbeispiel für mathematisch genau ausgetüftelte Farbdramaturgie hochgestylt hat.Neben dem zentralen Paar ist, gleichsam als Kommentar, ein weiteres Figurenpaar installiert, dessen Geschichte parallel verläuft: Der junge Jurist Auguste, Valentines Nachbar, steht gerade am Anfang seiner Karriere; seinen Hund behandelt er ziemlich mies. Sein Schicksal - er erfährt, daß seine Geliebte Karin ihn betrügt - ist Spiegelbild, Wiederholung und Verdopplung dessen, was der alte Richter einst in seiner Jugend erlebte. So gleicht die Verbindung, die der Film zwischen den Paaren stiftet, einem kunstvoll geknüpften Netz aus sich kreuzenden Lebenswegen, an dessen Knotenpunkten die Weichen für die Zukunft gestellt werden, wo sich aber auch die Vergangenheit blitzartig erhellt.Dem Netz der Lebenswege in "Rot" entspricht ein gut ausgebautes Netz der Kommunikationswege - was auch thematische Gründe hat. Während der Ruf nach Freiheit und Gleichheit das trennende, emanzipative Moment betont und auf die Entfaltung des Individuums, auf die Absicherung seiner Rechte zielt, sind im Begriff der Brüderlichkeit andere Dinge involviert: hier geht es um Beziehungen, Solidarität und Verständigung, um soziale Kommunikation. Sehr sinnfällig hat Kieslowski daher die Kommunikationsmittel in den Mittelpunkt seiner Inszenierung gestellt: in "Rot" sind es neben Fernseher, Radio und Zeitung vor allem Telefone und Anrufbeantworter. Auch die überdimensionale Plakatwand, auf der das Bildnis von Valentine als gigantisches "Blow Up" erscheint, bevor es, vom Wind davongetrieben, der Vergänglichkeit anheimfällt, ist ein solches Kom-munikationsmedium. Kieslowski spielt mit diesen verschiedenen Formen der Verständigung, der medialen Vermittlung, mit deren Hilfe - und in deren Bann - die menschliche Kommunikation funktioniert. Er folgt diesen Wegen und Irrwegen, schaltet Verbindungen und schafft Anschlüsse. Dabei arbeitet er auf der handwerklich-formalen Ebene noch raffinierter als im "Dekalog" und in den vorhergehenden Farben-Filmen. Das Netz aus inneren Bezügen, die sich wechselseitig erklären, ist in "Rot" von nahezu atemberaubender Dichte. Wie die moderne Kommunikationswelt vernetzt und verkabelt ist, so ist auch das Kieslowski-Universum nunmehr komplett durchzogen von einem System aus immanenten Korrespondenzen. Gerade "Rot" macht deutlich, wie sehr diese Trilogie auf der formalen Konzeption beruht. Am Ende führt Kieslowski die Hauptfiguren der drei Teile zusammen: Sie sind Überlebende eines Fährunglücks im Ärmelkanal, gerettet von einem gütigen Schicksal, vor allem aber gerettet von der Konzeption des Films und vom souveränen Spielleiter Kieslowski, der im Hintergrund die Fäden zieht.So entwerfen die "Drei Farben" vielleicht weniger ein moralisches oder philosophisches, sondern eher ein ästhetisches Programm. Zwar findet man auch in "Rot" wieder eine Menge "metaphysischer" Bedeutungsspuren, klassisches Bildungsgut, kulturelle Querverweise, Futter für Interpretationsgelüste jeglicher Art. Kieslowski kennt seine Exegeten und gibt ihnen, was sie brauchen, wobei er auch vor dem Auslegen falscher Fährten nicht zurückschreckt (witzigstes Beispiel: der Komponist Van den Bundenmayer, dessen Werke man vergeblich im CD-Laden sucht). In der Hauptsache aber zeigt er sich zumal in "Rot" als ebenso brillanter wie ironischer Formalist, der das filmische Erzählen auf das allerhöchste Level heben will.Daher hat die Beschäftigung mit den Kommunikationsnetzen eine doppelte Funktion: die Arbeit am Thema ist zugleich Arbeit an der Form. Kieslowskis "Rot" erzählt von Valentine und dem Richter, von Auguste und Karin. Gleichzeitig aber erzählt der Film von sich selbst und führt seine Struktur als Inhalt vor. Wer hier von Manierismus spricht, hat nicht ganz unrecht. Schon in der Anfangssequenz geht die Kamera auf eine halsbrecherische Jagd, indem sie einem Telefonkabel quer durch den Genfer See folgt. Das ist einerseits ein imposantes Beispiel für den Einsatz der entfesselten Kamera im Dienst des "auktorialen" Erzählens (Kieslowski ist auch diesmal wieder der omnipräsente Erzähler, in dessen umspannender Perspektive die beschränkten Perspektiven seiner Figuren aufgehoben und überwunden sind). Das ist andererseits bereits in Pillenform der Entwurf einer noch zu entfaltenden Geschichte der zwischenmenschlichen Leitungssysteme.Die Spinne im Netz der Kommunikation ist der alte Richter: Er klinkt sich in die Schaltkreise ein, ohne sich am Dialog zu beteiligen, er ist der heimliche Zuhörer, der ungebetene Zeuge, ein akustischer Spanner, ein Voyeur der Worte. Kieslowski zeigt ihn nicht ohne Hintersinn mit einer Mischung aus Verklärung und sanfter Ironie. Ein wenig eitel und ein wenig manieriert spielt Trintignant diesen Sonderling, der - ganz klassisch im Sinne der alten Gegenüberstellung von "vita activa" und "vita kontemplativa" - die Weisheit zu gewinnen versucht, indem er dem Leben entsagt. Und man liegt sicher nicht ganz falsch, wenn man in dieser Figur zumindest ansatzweise auch ein Selbstporträt des Regisseurs Kieslowski entdeckt, der die Menschen beobachtet statt über sie zu richten, der dem Kino entsagt, weil er es in seiner ganzen Herrlichkeit und Jämmerlichkeit durchschaut, um sich künftig anderen Dingen zu widmen. "Rot" sei, so behauptet Kieslowski, sein Abschied vom Kino. Soll man ihm glauben?