1986
Drama | Deutschland 2019 | 77 Minuten
Regie: Lothar Herzog
Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 2019
- Produktionsfirma
- Rohfilm
- Regie
- Lothar Herzog
- Buch
- Lothar Herzog
- Kamera
- Philipp Baben der Erde
- Musik
- Fabian Saul · Rafael Triebel
- Schnitt
- Stefanie Kosik-Wartenberg · Lothar Herzog
- Darsteller
- Daria Mureeva (Elena) · Evgeni Sangadzhiev (Victor) · Helga Filippova · Vitali Kotovitski · Vjacheslav Shakalido
- Länge
- 77 Minuten
- Kinostart
- 09.09.2021
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Genre
- Drama
- Externe Links
- IMDb | TMDB | JustWatch
Eine junge Studentin aus Minsk lässt sich auf die dubiosen Geschäfte ihres Vaters ein und schafft kontaminiertes Altmetall aus der Zone um Tschernobyl herbei.
Wenn die junge Studentin Elena (Daria Mureeva) in Minsk ihre Vorlesungen besucht, dann schwärmt die Dozentin vom international bewunderten Wirtschaftswunderland Belarus. Tatsächlich gibt es in der Hauptstadt großangelegte Parks zum Flanieren und auch ein Riesenrad. Abends kann man in den Clubs zu Techno abfeiern, als gäbe es kein Morgen. Lena, die nebenher auch noch kellnert, könnte sich also den Freuden und Kümmernissen der Jugend hingeben, etwa ihrer schmerzhaften Liebesgeschichte mit dem attraktiven Victor (Evgeni Sangadzhiev), dem alle Herzen zuzufliegen scheinen und der einfach nicht „Nein!“ sagen kann. Weshalb er immer mal wieder was anderes zu tun hat und sich Elena entzieht. Manchmal, wenn Elena mit Victor zusammen ist, fühlt sie sich bei ihm geborgen. Dann aber auch verletzt und zurückgestoßen.
In „Business“ einsteigen
Andererseits fehlt Elena die Zeit, sich ganz der Liebe und dem Studium zu verschreiben, denn ihr Vater sitzt wegen Steuerhinterziehung im Knast; ihm droht sogar eine langjährige Gefängnisstrafe, wenn er seine Steuerschulden nicht begleichen kann. Seine Geschäftsfreunde raunen zudem, dass das Gefängnis noch das Beste sei, was ihm angesichts seiner Geschäfte passieren konnte. Um ihm zu helfen, will Elena ins „Business“ einsteigen.
Entgegen den Thesen in der Uni-Vorlesung scheinen hier alle in der Schattenwirtschaft tätig zu sein. Man schmuggelt alles, was nicht von Profis oder den Ukrainern beanspruchen wird, mit denen man sich besser nicht anlegt. Elena transportiert mit einem alten Militärlaster Metall aus dem Grenzgebiet zwischen Belarus und der Ukraine, das nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl als „Zone“ gilt, in der die Natur sich in Abwesenheit der Menschen in eine Art märchenhaft-mystisches Idyll verwandelt wurde. Die junge Frau kennt diese Zone gut, weil ihre Großmutter dort einen Hof hatte.
Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen
So erzählt „1986“, das Langfilmdebüt von Lothar Herzog, gleich mehrere Geschichten, die in der Figur von Elena zusammenlaufen. Das Jahr 1986 fungiert hier weniger als Menetekel, weil hier Beziehungen vergiftet sind oder vergiftete Beziehungen gepflegt werden, sondern eher als historisches Schisma, das zur aktuellen Situation geführt hat. Insofern ist „1986“ ein Film über die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, was der Film durch seine recht radikale Montage von unterschiedlichen Zeitebenen deutlich unterstreicht.
Interessanter noch als die Montage ist indes die Kameraarbeit von Philipp Baben der Erde, der über weite Strecken so nah an die Figuren herangeht, bis die Umwelt zu verschwinden scheint. Das erlaubt es, die unterschiedlichen Haltungen der Protagonistin in den verschiedensten Konstellationen in konzentrierter Form zu studieren, was insbesondere der Kunst der Hauptdarstellerin Daria Mureeva entgegenkommt, die souverän über die ganze Palette zwischen Aufbegehren und Verunsicherung verfügt.
Zwischen all den Ansprüchen, die von verschiedenen Seiten an sie herangetragen werden, versucht Elena/Mureeva stets eine eigene Position zu etablieren, indem sie dokumentiert, was sie sieht. Institutionell stoßen ihre Fotografien jedoch auf Ablehnung, weil sie angeblich zu negativ seien und überdies kein künstlerisches Konzept erkennen ließen.
Flucht in die Einsamkeit
Elena ist in „1986“ in jeder Szene präsent, doch in ihrer Welt wird sie übersehen und unterschätzt. Wenn sie am Schluss in der Zone verschwindet, erscheint das Jahr 1986 nicht länger als das Datum, an dem sich Bäume verfärbten, sondern als Ermöglichung eines Freiraums, in dem man sich den Zumutungen des Sozialen fürs Erste entzieht – oder vielleicht auch endgültig. Denn entgegen der konfliktträchtigen, teilweise recht beklemmenden Atmosphäre mit der nur angedeuteten Gewalt, verdichtet auf wenige, durchaus spannend inszenierte Action-Momente, erscheint die Flucht in die Einsamkeit in diesem virtuos reduktionistischen Film nicht als Scheitern, sondern letztlich als Befreiung. Die Katastrophe als Chance.