Ein uraltes Rezept der Unterhaltungswelt dürfte auch in „Judy“ wieder zum Erfolg führen. Man nehme die Lebensgeschichte einer beliebten Persönlichkeit, wähle ein populäres Bühnenstück als Vorbild und besetze die Hauptrolle mit einem Star, dessen persönliche Karriere oft genug für Schlagzeilen gut war. Hollywood und ein Großteil des Kinopublikums haben eine solche Kombination stets geliebt und werden es wohl auch diesmal wieder tun. Denn wer könnte dem fast schon tragisch anmutenden Schicksal des vom Hollywood-Mogul Louis B. Mayer zum Star hochgezüchteten kleinen Mädchen vom Lande widerstehen, das nach einer Vaudeville-Karriere unter auch schon nicht eben rosigen Lebensumständen als Judy Garland mit seiner Stimme und seiner Verletzlichkeit die Welt eroberte, fünfmal unglücklich verheiratet war und schon im Alter von 47 Jahren einer Überdosis von Drogen und Psychopharmaka zum Opfer fiel?
Eine Ruhmes- und Leidensgeschichte
Ganze Generationen haben sich für Garlands wunderbare Stimme begeistert. „A Star is Born“ (1954) hieß jener Film, der die Unstetigkeiten und Anfechtungen eines Künstlerlebens wie ihre eigene Biografie nach „Der Zauberer von Oz“ (1939) zu summieren schien. Das Melodrama ist bis heute ein Symbol für die menschenverschlingende dunkle Seite der Hollywood-Industrie. Deshalb thront der MGM-Chef Louis B. Mayer in „Judy“ völlig zu Recht als egozentrischer Patriarch über etlichen Szenen, die die Ursprünge der Ruhmes- und Leidensgeschichte von Judy Garland während der hier beschriebenen letzten Jahre ihres Lebens überschatten.
Der größte Teil der Filmhandlung spielt im Jahre 1969, lange nach Garlands Glanzzeit, nach ihren Scheidungen und nach der Geburt von drei Kindern, die sie inbrünstig liebte, auch wenn sie selten für sie da sein konnte. Man hat sie nach London in einen Nachtclub eingeladen, der „The Talk of the Town“ heißt. Doch schon an der Rezeption des Luxushotels, in dem man sie früher hofiert hat, wird sie schnöde abgewiesen. Allzu bekannt sind inzwischen ihre Zahlungsunfähigkeit und die Unzuverlässigkeit ihrer Auftritte. Sie ist abhängig von Zuwendungen ihrer Freunde und von ihrem 12 Jahre jüngeren fünften Mann, der ihre Tiefpunkte auszunutzen versteht, ähnlich wie so viele „Bewunderer“ in ihrer Umgebung. „Over the Rainbow“, der zauberhafte Song, der ihr ganzes Leben begleitet hat, wird zum Abgesang eines an seinen Schwächen und der Selbstsucht seiner Umwelt zugrunde gehenden Talents.
Der Film einer Schauspielerin: Renée Zellweger
Judy Garland war ein in den Star-Himmel gehobenes Hollywood-Produkt. Nichts könnte deshalb von einer Verfilmung (wenn auch nur ihrer letzten Lebensjahre) eher zu erwarten sein als eine mit Effekten ausgestattete Akklamation. Doch das war augenscheinlich nicht die Absicht von Regisseur Rupert Goold. Dem Film liegt das Bühnenstück „End of the Rainbow“ von Peter Quilter zugrunde, das eher einem intimen Kammerspiel gleicht als einer auftrumpfenden Huldigung. Wie das Theaterstück zögert auch der Film, die Höhepunkte auf ihren vollen melodramatischen Effekt hin auszuspielen. „Judy“ ist sehr viel eher eine mit seiner Hauptfigur sympathisierende, aber distanzierte Märtyrer-Story, die nur selten große dramatische Ausbrüche zulässt.
Umso intensiver konzentriert sich die Regie auf die bis in kleinste Regungen verfolgte Physiognomik eines komplizierten Charakters. Eine filmische Umsetzung des Theaterstücks wird nur zaghaft versucht; sie bleibt hölzern und wenig überzeugend. „Judy“ ist vielmehr ein reiner Schauspielerfilm, ein Vehikel für Renée Zellweger. Man erinnere sich daran, wie auch Zellweger nach ihren Erfolgen in „Chicago“ und „Unterwegs nach Cold Mountain“ lange Zeit keine ihrer Begabung entsprechenden Rollen finden konnte und schließlich sogar sechs Jahre lang überhaupt keine Filme drehte.
Das Erstaunlichste an diesem Comeback ist, dass Zellweger keine Anstrengungen unternimmt, genauso auszusehen wie Judy Garland. Offensichtlich hat auch Goold nicht darauf bestanden. „Authentizität durch Empathie“, hat ein US-amerikanischer Kritiker das Ergebnis genannt. Auch wenn sie singt, singt Zellweger nur selten mit dem für Garland typischen Vibrato, sondern bemüht sich mehr um die zu transportierenden Stimmungen und Gefühle. Sie singt wie Renée Zellweger – und sie ist beeindruckend. Fast wie Judy Garland.