Ich habe meinen Körper verloren
Animation | Frankreich 2019 | 81 Minuten
Regie: Jérémy Clapin
Filmdaten
- Originaltitel
- J'AI PERDU MON CORPS
- Produktionsland
- Frankreich
- Produktionsjahr
- 2019
- Produktionsfirma
- Xilam/Auvergne-Rhône-Alpes Cinéma
- Regie
- Jérémy Clapin
- Buch
- Jérémy Clapin · Guillaume Laurant
- Musik
- Dan Levy
- Schnitt
- Benjamin Massoubre
- Länge
- 81 Minuten
- Kinostart
- -
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 14.
- Genre
- Animation | Drama | Literaturverfilmung
- Externe Links
- IMDb | TMDB | JustWatch
Ein Animationsfilm über eine abgetrennte Hand, die auf der Suche nach ihrem Körper gefährliche Abenteuer in Paris besteht, und über den Jungen, zu dem sie einst gehörte.
Wovon mag eine vom Körper abgetrennte Hand wohl träumen? In dem Animationsfilm „Ich habe meinen Körper verloren“ träumt sie vom Fühlen und Tasten, von spitzen und sanften Dingen, dem durch die eigenen Finger rinnenden Sand, von Substanzen und Aggregatzuständen, etwa Speichel oder Nasenschleim. Was auch in sich hineingreifen bedeutet, sich selbst als etwas erkennen, das zu einem größeren Ganzen gehört.
Zur Zeit des ersten Fühlens und Tastens, am Anfang aller Wahrnehmung, war die Welt noch heil und voller wundersamer Dinge, die es zu entdecken galt. Was möchtest du später werden, wurde der kleine Junge, dem die abgetrennte Hand einst gehörte, von seinem Vater gefragt. Alles stand offen, das Leben – ein unbeschriebenes Blatt, ein Angebot, ein Versprechen.
In der Zwischenzeit ist vieles geschehen, ein tragischer Unfall, ein Umzug als Waisenkind, aus dem arabischen Heimatland nach Frankreich, in eine nicht so liebevolle Familie. Zu Naoufel, so heißt der Junge, war das Schicksal alles andere als großzügig. Und dann auch noch dieses Unglück, das ihn seiner Hand beraubte. Oder die Hand ihres Besitzers, könnte man sagen, denn der Animationsregisseur Jérémy Clapin zeichnet sie als eine eigenständige Figur, als Agentin ihres eigenen Schicksals, die genau weiß, was ihr fehlt. Kein strafendes Partialobjekt kindlicher Albträume ist sie, sondern ein facettenreiches Wesen, das fürchtet und liebt.
Verwegene Flucht aus dem Krankenhaus
Die Wahrnehmungsbilder wechseln sich in „Ich habe meinen Körper verloren“ mit purer Action. Zu Beginn befindet sich die abgetrennte Hand, eingepackt in einer Plastiktüte, im Kühlschrank eines Pariser Krankenhauses. Reagenzgläser, ein Gefäß voller loser Augäpfel, ein ebenso abgepacktes Herz und ein Gehirn liegen dort auf den Regalen verteilt. Die Hand befreit sich aus dem Kühlschrank, kriecht vorwärts auf dem Boden, stellt sich auf und fällt. Sie stellt sich wieder auf und macht die ersten wackeligen Schritte, fällt wieder, hält inne und unternimmt einen neuen Versuch. Was dann beginnt, ist eine spektakuläre Reise zurück zu dem Körper, ein Aufbegehren gegen das Schicksal und gegen alle Wahrscheinlichkeit, trotz Ungeziefer, böser Vögel und rasender Autos. In einer Szene wird die Hand von den Ameisen attackiert – eine Hommage an „Ein andalusischer Hund“ von Luis Buñuel.
Der zweite Erzählstrang setzt früher an und begleitet den jungen Naoufel, der mit seinem Motoroller als Pizzabote unterwegs ist. Die insistierende Dynamik der Großstadt, „le métro“ zu den Außenbezirken, dort die Hochhäuser, die ein wenig so aussehen, als blieben sie für immer unfertig, noch unbewohnt oder bereits verlassen. Der Wind ist immer stark. Körperlich und emotional ist der junge Mann noch einigermaßen intakt, aber nur, bis er sich in Gabrielle verliebt. Genauer gesagt in ihre Stimme; der Film von Jérémy Clapin ist erstaunlich unbeirrbar und sich selbst auf allen Ebenen treu. Naoufel sucht nach der Stimme, findet sie und versucht mithilfe eines ausgeklügelten Plans, ihr näherzukommen. Wieder erlebt man die Bewegung eines Teils zum Ganzen hin, die Sehnsucht nach Anschluss und Nähe, ein Glück begehren.
Coming-of-Age trifft auf Abenteuer und Fantastik
Clapins Figuren sind selten glücklich; sein Markenzeichen sind eher Einsamkeit und innere Verlorenheit. Schon in seinem Kurzfilm „Skhizein“ (2008) erzählt er eine straffe, nüchtern strukturierte Geschichte über den geknickten Kontakt zu sich selbst und der Welt. Den jungen Henri trifft die psychische Krankheit wie ein Meteorit und macht seinen Alltag zu einer Überforderung. Sein Leben ist ein andauernder Kampf. Henris Kopf ist groß, sein Körper wirkt dagegen kindlich und schutzlos, die Nase erinnert an Michel Houellebecq; an der Spitze hängt sie resigniert durch. Die Farbpalette beschränkt sich in „Skhizein“ auf ausgedünntes Grün, Braun und Schwarz.
In „Ich habe meinen Körper verloren“ sind die Farben satter, aber noch immer sehr gedeckt. Punktuell kommt auch Rot und Orange zum Einsatz. Es gibt feste, stabile Formen und klare Konturen; der Stil ist nüchtern und beinahe schnörkellos, dennoch dicht im Detail und voller Bildwitz. Die Musikkompositionen von Dan Levy sind ein wesentliches Element; tief melancholisch und ausgesprochen energisch und treibend.
„Ich habe meinen Körper verloren“ wechselt zwischen mehreren Zeitebenen hin und zurück, changiert kunstvoll Tonalitäten und Register, vermischt Coming-of-Age mit Abenteuer und Fantastik, romantische Liebesgeschichte mit Thriller. Am Schluss findet all das zueinander, entgegen aller Wahrscheinlichkeit; doch nie wirkt etwas künstlich, an keiner Stelle mangelt es an etwas.
„Ich habe meinen Körper verloren“ wurde 2019 bei den Filmfestspielen von Cannes mit dem Hauptpreis der Sektion „Semaine de la Critique“ ausgezeichnet. Das ist für sich genommen schon bemerkenswert. Zum ersten Mal seit der Gründung der Sektion im Jahr 1962 wurde dieser Preis an einen Animationsfilm verliehen. Wovon träumt eine vom Körper abgetrennte Hand? Wie sieht dies genau aus, wen liebt und fürchtet sie? Und wie kommt sie auf allen Fünfen voran? Für all das hat Jérémy Clapin ergreifende Bilder geschaffen.