„Es hat mir hat gut getan, wieder aktiver zu werden, wieder aus dem Haus zugehen“, sagt eine junge Frau vor laufender Kamera. Ihre dunklen Haare rahmen ein schmales Gesicht ein, sie ist blass, konzentriert, aber erschöpft. Sie dankt ihrer Familie und ihren Freunden für die große Unterstützung.
Zweieinhalb Jahre ist es her, dass die junge Studentin Camila Nieves tot in ihrer Wohnung aufgefunden wurde. Voller Blut, mit zahlreichen Stich- und Schnittwunden, ermordet nach einer rauschenden Party. Schnell konzentrierten sich die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft auf eine Verdächtige: die beste Freundin der Ermordeten seit Kindertagen, die 21-jährige Modedesign-Studentin Dolores Dreier. Sie ist die Einzige, die nach der Feier mit Camila in der Wohnung übernachtete, die Letzte, die die Ermordete noch lebend sah und die ein eindeutiges Mordmotiv hatte. Denn Wochen vor dem Mord hatten sich die beiden Freundinnen zerstritten. Camila hatte ein Video ins Netz gestellt, das fast 3500 Mal angeklickt wurde und Dolores beim Sex mit einem gemeinsamen Freund zeigt. Schon nach dem Mord stürzte sich die Sensationspresse auf den Fall, jetzt kurz vor Prozessbeginn ist das Medienecho extrem hoch.
Gefangen im Zwang, ein Bild der Unschuld abzugeben
All das erzählt der Film elegant-elliptisch mittels atmosphärischer Rückblenden. Regisseur Gonzalo Tobal führt den Zuschauer über die angespannte Situation im Hause der Familie Dreier hin zur Hysterie, die der Fall in den argentinischen Medien auslöst. Von Anfang an wird deutlich, dass Dolores nach dem Mord ihre Freiheit verloren hat, auch wenn realiter noch längst kein Urteil in dem Fall gefällt ist. Die Studentin ist nicht in Untersuchungshaft, sie kann sich theoretisch frei bewegen, aber ihr Leben bewegt sich nach einem strengen Drehbuch. Denn, so die Strategie des Vaters und ihres Anwaltes, Dolores müsse jetzt mit allen Mitteln ihre Unschuld und Integrität vor den Medien und vor dem Gericht zur Schau stellen.
Das Leben der Familie wird dabei zunehmend zerrüttet, jede Feier, wie etwa die Kommunion des kleinen Bruders, wird zur aufreibenden öffentlichen Demonstration, und schon Dolores’ neue Kurzhaarfrisur kann eine gefährliche Imageänderung herbeiführen. Die Anwaltskanzlei wird zur PR-Agentur der Familie, und der Anwalt ist teuer: Schon musste das Landhaus des Großvaters verkauft und das Heim der Familie mit einer Hypothek belastet werden. Die Mutter hat ihre Stelle im Krankenhaus verloren, und der Vater bekommt nur noch wenige Aufträge. Und immer bleibt im Hintergrund das tiefe Misstrauen, ob Dolores nicht vielleicht doch ihre beste Freundin brutal mit einer Schneiderschere ermordet hat. Ihr Anwalt sagt ihr auf den Kopf zu, dass sie etwas verberge, und auch der Vater wird zunehmend nervöser und kontrollsüchtiger...
Die Wahrheit interessiert niemanden mehr
„Acusada“, so der Originaltitel des Films, heißt auf Deutsch „angeklagt“. Aber diese Anklage bedeutet für die Protagonistin bereits eine Vorverurteilung durch die Medien und durch aufgepeitschte Mitbürger. So ist vielleicht auch der etwas unbeholfene deutsche Titel „Verurteilt – Jeder hat etwas zu verbergen“ zu verstehen, denn noch mehr als ein spannungsvoll erzählter Justizthriller mit überraschenden Wendungen ist „Verurteilt“ ein Film über die Macht der Medien, über die parallele Justiz durch Fernsehshows und Boulevardpresse und über das Geschäft mit der Sensation, und als Kehrseite dazu ein psychologisches Kammerspiel über den bröckelnden Zusammenhalt und die zunehmende Selbstzerstörung einer Familie, die versucht, ein Bild abzugeben, das der Tochter vor Gericht hilft.
Die Wahrheit bleibt dabei auf der Strecke. Auch für die Familie kommt es nicht darauf an, die Unschuld der Angeklagten zu beweisen, sondern eine schlüssige Verteidigungslinie zu bewahren und sich und Dolores vor Medien und Gericht im günstigen Licht zu präsentieren. Das erzählt der Film über großartige Schauspieler: An erster Stelle Lali Espósito als Dolores, die die Angeklagte ebenso verletzlich wie verletzend und enigmatisch darstellt, dann Leonardo Sbaraglia, einer der besten argentinischen Schauspieler, als Luis, der Vater, der sich aufreibt in seinem Wahn, alles kontrollieren zu müssen. Wunderbar sind auch Daniel Fanego als machiavellistischer Staranwalt und Gerardo Romano, sein Gegenspieler als konservativer Staatsanwalt.
Im Gegensatz zu anderen bekannten argentinischen Genrefilmen wie „El Clan“ von Pablo Trapero oder „El Ángel“ von Luis Ortega spielt „Verurteilt“ ausschließlich im Ambiente einer oberen Mittelschicht. Inszeniert wird dieses weitgehend ohne Lokalkolorit, was den universalen Charakter der Geschichte betont, die Ähnlichkeiten mit dem langwierigen Mordprozess (2007-2015) um die Amerikanerin Amanda Knox aufweist. Am Ende schaut Dolores fasziniert auf einen Puma, der sich auf dem Nachbardach sonnt und der gerüchteweise schon seit Tagen durch die Medien geisterte – eine andere Geschichte für eine sensationslüsterne Medienöffentlichkeit.