Die Taube auf dem Dach

Drama | DDR/Deutschland 1973/1990/2010 | 82 Minuten

Regie: Iris Gusner

Drei Menschen suchen in teils schmerzhaften Prozessen nach ihrem Platz im Leben. Über die Dreiecksgeschichte zwischen einer Bauleiterin, einem Arbeiter und einem Studenten hinaus entwirft der Debütfilm ein Panorama der DDR-Gesellschaft, die zur Karikatur der sozialistischen Utopie zu werden droht bzw. schon geworden ist. Wegen „Verunglimpfung der Arbeiterklasse“ nicht zur Aufführung zugelassen, blieb der mosaikartige, kühl sezierende, bisweilen satirisch zugespitzte Film im Tresor; das Material war zwei Jahrzehnte lang unauffindbar. Erst dann konnte ein schwarz-weißes Dup-Negativ des in Farbe gedrehten Films rekonstruiert werden. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
DDR/Deutschland
Produktionsjahr
1973/1990/2010
Produktionsfirma
DEFA, Gruppe "Babelsberg"
Regie
Iris Gusner
Buch
Iris Gusner
Kamera
Roland Gräf
Musik
Gerhard Rosenfeld
Schnitt
Helga Krause
Darsteller
Heidemarie Wenzel (Linda Hinrichs) · Günter Naumann (Hans Böwe) · Andreas Gripp (Daniel) · Christian Steyer (Trompeter) · Monika Lennartz (Schallplattenverkäuferin)
Länge
82 Minuten
Kinostart
09.09.2010
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Drama
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Heimkino

Verleih DVD
Icestorm
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Diskussion
Mit „Die Taube auf dem Dach“ (1973) legt die DEFA-Stiftung einen weiteren restaurierten Verbotsfilm aus der DDR vor. Wie in fast allen Fällen, in denen damals keine Zulassung erteilt wurde, handelte es sich um einen „Gegenwartsfilm“. Iris Gusner, die an der Moskauer Filmhochschule WGIK studierte, reflektierte in ihrem lang erwarteten Debüt die Widersprüche zwischen Ideal und Wirklichkeit, utopistischem Anspruch und Realität. Was man zu sehen bekommt, ist also nicht das, was der Filmtitel ironisierend vorgibt, sondern der „Spatz in der Hand“: Die Regisseurin skizziert einen Alltag, der zum Zerrbild, zur Karikatur eines hochfliegenden gesellschaftspolitischen Entwurfs zu geraten droht oder schon geraten ist. Dafür benutzt sie die Form eines Puzzles. Obwohl der Film eine Dreiecksgeschichte andeutet, zwingt Iris Gusner sie nicht in den Rahmen einer geschlossenen, melodramatisch zugespitzten Fabel, sondern öffnet sie zu einem bruchstückhaften, spröden Kaleidoskop. Plötzlich werden Nebengestalten wichtig, als mögliche Projektion der Zukunft der Hauptfiguren. Erzählerische Tableaus, die wie ein Happening wirken, schaffen eigene Inseln im mäandernden Strom der lediglich angedeuteten Story; satirische Passagen sorgen angesichts des insgesamt ernsten Grundtons für Irritationen. Diese „offene Dramaturgie“, ein freier, spielerischer Umgang mit dem Stoff, war zur Entstehungszeit des Films international sehr modern; bei der DEFA wurde er am konsequentesten in den Jahren nach 1970 gepflegt, in Filmen wie Lothar Warnekes „Es ist eine alte Geschichte“, Siegfried Kühns „Das zweite Leben des Friedrich Wilhelm Georg Platow“, Konrad Wolfs „Der nackte Mann auf dem Sportplatz“ oder Egon Günthers „Die Schlüssel“, dem wohl vollendetsten Versuch, klassische Erzählstrukturen aufzubrechen. Die „offene Dramaturgie“ war nicht zuletzt bedeutsam, weil sie es ermöglichte, Fragen zu stellen, ohne gleich mit wohlfeilen Antworten aufwarten zu müssen. Iris Gusner, nach dem Tod von Ingrid Reschke („Kennen Sie Urban?“) damals die einzige Regisseurin im DEFA-Studio für Spielfilme, führt ihre Figuren auf einer Baustelle zusammen: Ein Brigadier, ein jobbender Student und eine Bauleiterin reiben sich am Status quo. Der Brigadier Böwe (kantig und verwundbar: Günter Naumann) zieht von einem Bau zum anderen, ohne sich selbst zu schonen: ein Idealist, der auf dem Weg zum offiziell beschworenen gesamtgesellschaftlichen Fortschritt seine eigene Familie, sein eigenes Glück verloren hat. Auch die Bauleiterin Linda, eine junge Frau, die am Anfang ihrer Laufbahn steht, geht in ihrem Beruf auf, beginnt aber darüber nachzudenken, wie Arbeit und Privatleben zu vereinbaren wären, wobei zumindest eines deutlich wird: Der bisweilen dem Alkohol verfallene Böwe, der ihr Avancen macht und den sie mag, kommt für sie als Partner kaum infrage; untergründig spielt da auch der soziale Unterschied zwischen der Intellektuellen und dem Arbeiter eine Rolle. Auch der Student Daniel dürfte bei ihr nicht die Chance finden, die er sich erhofft: Sie schätzt zwar seinen spontanen Idealismus, etwa wenn er gegen die Bürokratisierung des Solidaritätsgedankens rebelliert, ist für sie aber zu jung, zu biegsam, zu naiv. Alle drei Figuren sind, unabhängig von Alter und Erfahrung, auf der Suche nach ihrem Platz im Leben. Roland Gräfs Kamera bevorzugt halbtotale und halbnahe Einstellungen und entsprach damit dem Wunsch der Regisseurin, Vorgänge aus einer gewissen Ferne und weniger Emotionen zu zeigen: ein sachlicher, kühl sezierender Draufblick, eine soziale und soziologische, moralische, nicht aber moralistische Versuchsanordnung. „Die Taube auf dem Dach“, gedreht von September bis Dezember 1972, entstand in einer Phase der kulturpolitischen Liberalisierung, die mit Erich Honeckers Worten eingeläutet worden war, es könne „auf dem Gebiet von Kunst und Literatur keine Tabus“ geben, „wenn man von der festen Position des Sozialismus ausgeht“. Dieser Satz aus einer Rede vor dem Zentralkomitee der SED im Dezember 1971 wurde im Mai 1973 zurückgenommen, als Honecker vor dem selben Plenum vom angeblichen Missbrauch der gewährten Freiheiten durch die Künstler sprach. Der Argwohn, dem auch einige neue DEFA-Filme ausgesetzt waren, traf Gusners Debüt mit voller Wucht. In ihrem Buch „Fantasie und Arbeit“ (2009) zitiert sie, welche Vorwürfe ihr begegneten: „Der Stil des Films ist der reine Kunstirrtum; in jeder Szene Angriffe gegen die DDR; die Menschen alle in der Krise; das Arbeiterbild verzerrt. Iris Gusner hat der Arbeiterklasse ins Gesicht gespuckt.“ Viele Sequenzen stießen bereits im DEFA-Studio für Spielfilme auf Vorbehalte der unsicher gewordenen Leitung, u.a. jene Szene zwischen Böwe und einem Kollegen, der sich ein Haus baut und Böwe vorwirft, seine Knochen stets nur für den Staat hingehalten und nie für sich selbst gesorgt zu haben. Gusner wollte damit das „zunehmend kleinbürgerliche Denken“ gerade auch der Arbeiter kritisieren, den „Verlust der Utopie“. Dass sich Böwe in einem Moment tiefster Verzweiflung den Freiheitschor aus „Nabucco“ anhört, ließ die Alarmglocken der kulturpolitischen Bedenkenträger schrillen. Nicht zuletzt irritierte der Monolog von Daniels Vater, der Weihnachtsbaumkugeln herstellt, fast an den Schluss des Films gesetzt: „Jede Weihnachtsfeier ist so bunt, wie wir sie wollen. Die Leute kaufen unsere fertigen Kugeln, und ihnen bleibt nur die Freiheit, sie auf dem Tannenbaum zu verteilen. Und da gibt es nicht allzu viele Möglichkeiten...“ Abgesehen von solchen Details war die Grundhaltung des Films insgesamt suspekt: Kein Problem wurde einer Lösung zugeführt, keine trügerische Hoffnung geweckt. Er wurde vom Studio nicht freigegeben, nur eine Arbeitskopie blieb erhalten. Im Oktober 1990 konnte er erstmals gezeigt werden, danach verloren sich alle Spuren des Materials. Erst jetzt gelang es, das wiedergefundene schwarz-weiße Dup-Negativ des in Farbe gedrehten Films zu rekonstruieren. Heute ist er vor allem historisch interessant: als Beleg für die Kritik am Zustand der DDR „von links“, verbunden mit der Suche nach einer artifiziellen Form abseits selbstgenügsamer Konvention.
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