Dass diese Tiere einen Sog oder vielleicht sogar eine Sucht bei denjenigen auslösen können, die sich mit ihnen befassen, kann man in dem Dokumentarfilm „The Whale & the Raven“ leicht nachvollziehen. Plötzlich wünscht man sich nichts sehnlicher, als neben der Walforscherin Janie Wray zu stehen und stundenlang nach den Wasserfontänen und Schwanzflossen der Buckelwale Ausschau zu halten. Um eines Tages wie sie diese mächtigen Tiere an ihren Schwanzflossen unterscheiden und identifizieren zu können.
„The Whale & the Raven“ ist kein perfekter Film. Aber er hat ein perfektes Thema, und die perfekten Protagonisten, um dies zu transportieren: Die Walforscher Janie Wray und Hermann Meuter, die an der Westküste Kanadas ihrem Beruf nachgehen, der eher eine Berufung ist. Früher waren die Kanadierin und der Deutsche ein Paar. Doch, so wird es einmal angedeutet, das einsame Dasein auf der unbewohnten Insel Gil Island, wo sich die Forschungsstation Cetacealab befindet, hat ihrer Liebesbeziehung nicht gutgetan.
Buckelwale & Orcas
Nun arbeiten sie getrennt, auch wenn sie sich beide noch immer ganz und gar den Walen verschrieben haben. Während sich die warmherzige Wray auf Buckelwale spezialisiert hat und neben der Beobachtung der Tiere von Boot oder Land aus auch Vorträge über deren Lebensweise hält, sind Meuters Spezialgebiet die Orcas.
Meuter scheint sich auf die „Basisarbeit“ zurückzuziehen. Stunden- und tagelang sitzt er in dem kleinen Holzhäuschen am Wasser, um den Unterwassermikrophonen zu lauschen, die die Töne der Wale, aber auch den enormen Lärm von vorbeifahrenden Schiffen aufzeichnen. Manchmal kommen Studenten zu ihm in die Station, die nach einer aufwändigen Anreise ein karges Zeltlager vorfinden sowie ein Chef, der anhand der „Knäh“-Rufe der Orcas die verschiedenen Wal-Gemeinschaften voneinander unterscheiden kann: Meuter weiß genau, ob gerade Gruppe A1 oder Gruppe A5 zu hören ist. Der Forscher ist mit einer Ernsthaftigkeit bei der Sache, die ihn gelegentlich leicht nerdig wirken lässt; seine Praktikanten machen bisweilen etwas verwirrte Gesichter.
Der Kampf gegen die Tanker
Regisseurin Mirjam Leuze führt Meuter keineswegs als Klischee des weltfremden Wissenschaftlers vor. Im Gegenteil: Seine Feldforschung, das steht hier außer Zweifel, ist essenziell wichtig. Nicht zuletzt als Argument gegen eine Flüssiggas-Tanker-Route zwischen der nicht weit entfernten Küstenstadt Kitimat und dem asiatischen Kontinent. Die geplante Strecke würde durch die Fischgründe der Wale führen und das empfindliche Biotop rund um Gil Island spürbar durcheinanderbringen, wenn nicht gar zerstören.
Nichtsdestotrotz wird es wohl dazu kommen: Im Austausch für Gegenleistungen haben die First-Nations-Indianerstämme, denen das zerklüftete Küstengebiet gehört, Regierung und Industrie ihre Zustimmung gegeben. Die Rebellion eines anderen Stammes gegen das Projekt ist aller Wahrscheinlichkeit nach eher aussichtslos. Die Planungen für das Flüssiggas-Terminal sind bereits weit gediehen: In Kitimat und Umgebung erhofft man sich durch das Projekt einen wirtschaftlichen Aufschwung.
Auf die indigenen Völker geht auch der zunächst irritierende Filmtitel zurück – schließlich handelt der Dokumentarfilm gar nicht von Raben, sondern fast nur von Walen. Das Rätsel klärt sich insofern, als Janie Wray in den „Killerwal-Clan“ des Gitga’at-Stammes aufgenommen wurde, während Hermann Meuter Mitglied im „Raben-Clan“ ist.
Quietsch-Töne überall
In wunderschönen Bildern, darunter vielen Luftaufnahmen, sieht man den faszinierenden Tieren zu, die in den Gewässern rund um Gil Island ihre Bahnen ziehen; für die Kamera zeichnet unter anderen auch die Regisseurin Mirjam Leuze verantwortlich. Diese optischen Schauwerte, die berührende und höchst brisante Thematik und die sympathischen Protagonisten auf der Tier- wie auf der Menschenseite gewährleisten einen fesselnden Film, auch wenn Dramaturgie und Ästhetik nicht durchwegs überzeugen. Denn sehr lange Text-Einblendungen mit Infos zu der geplanten Flüssiggas-Route sind ästhetisch nicht sonderlich elegant gelöst. Auch die Zeichentrick-Ästhetik der illustrierenden First-Nations-Saga ist nicht durchgängig stimmig.
Doch die ruhige Beobachtung der Menschen, deren Job ihrerseits in der Beobachtung von Wale besteht, sorgt für ein schönes, gelungenes Werk, das den Zuschauer regelrecht einsaugt. So sehr, dass man im hektischen Stadtverkehr nach dem Kinobesuch plötzlich Orca-Rufe zu vernehmen scheint – die sich dann aber doch bloß als das Quietschen von Autoreifen entpuppen.