Die digitale Welt gebiert seltsame neue Gefühlsvariationen. An einem bestimmten Punkt merkt Claire Millaud, wie körperlich abhängig sie von einem kleinen grünen Licht geworden ist: Das Zeichen, dass ihr Chatpartner online gegangen ist, sorgt gleichzeitig für ihre Beruhigung und setzt Erregungsmechanismen frei; ein Ausbleiben dagegen beschwört Ängste und beklemmende Zustände herauf, dass ihr falsches Spiel bei dieser Internetbeziehung aufgeflogen sein könnte. In ihrem Facebook-Profil hat sich die Professorin in den Fünfzigern halb so alt gemacht wie in Wirklichkeit und sich mit dem mehr als zwanzig Jahre jüngeren Fotografen Alex vernetzt. Für die scheinbar junge Bewunderin seiner Arbeit war es von der ersten Nachricht zur Dauer-Schriftkommunikation nur ein kleiner Schritt.
Claire empfindet endlich wieder Glück, nachdem die Trennung von ihrem Mann nach zwanzig Ehejahren sie niedergerissen hat, doch hat die Lügenexistenz ihren Preis: Von der Sucht nach ihrem Onlinefreund und dem Versteckspiel vor ihrer Umwelt auch psychisch angegriffen, erscheint sie bei der Psychiaterin Catherine Bormans, ohne freilich Schuldgefühle wegen ihres Verhaltens zu verraten. Lieber verpasst sie ihrem auch nicht mehr jungen Gegenüber, das ihr in Frisur und Brille so irritierend ähnelt, gleich zur Begrüßung einen doppelten Tiefschlag, der Dr. Bormans zugleich als beruflich zweitklassig („Sie machen seit zwanzig Jahren Vertretung.“) und im digitalen Sinne praktisch nicht existent („Das war alles, was ich auf Google über Sie finden konnte.“) angreift. So aggressiv dieser Einstieg anmutet, beginnt Claire sich doch zu öffnen: Genau wie die Adligen in dem Roman „Gefährliche Liebschaften“, den sie in ihren Literaturseminaren durchnimmt, ihre Intrigen in Briefform verewigen mussten, braucht auch sie einen Kanal, um ihr Täuschungsmanöver darlegen und rechtfertigen zu können.
Der Erzählerin ist nicht unbedingt zu trauen
Falsche und bezweifelbare Identitäten haben den französischen Regisseur Safy Nebbou schon in seinem Spielfilmdebüt „Der Hals der Giraffe“ fasziniert, und auch seine folgenden, meist dem Thriller-Genre zuzurechnenden Werke wie „Das Zeichen des Engels“ haben mit den Grenzen von Schein und Sein, Wahn und Realität gespielt. In seinem sechsten Film „So wie du mich willst“ nach einem Roman von Camille Laurens setzt Nebbou mit der ersten Begegnung zwischen Claire und der Psychiaterin gleich zu Beginn ein Signal, dass sich der Zuschauer auf eine Erzählerin einzustellen hat, der nicht unbedingt zu trauen ist: Claires Bericht und die dazu erscheinenden Bilder über ihre Kontaktaufnahme mit Alex – anfangs nur, weil dieser der beste Freund ihres sich entziehenden Liebhabers Ludo ist – und die Annahme der falschen Online-Identität, die sie mit Fotos und Videos einer jungen Frau vervollständigt, behaupten eine allzu glatt verlaufende Entwicklung, wie auch der bald erfolgende Übergang von der Schreib- zu einer Telefonbeziehung (mit von ihr jugendlich verstellter Stimme).
Logisch, dass Dr. Bormans bald Zweifel am Wahrheitsgehalt der Erzählung anmeldet. Doch ob bei Claire Wunschträume, subjektive Illusionen oder der Versuch, die Seelenärztin zu beeindrucken, zu diagnostizieren sind, lässt Nebbou auf subtile Weise offen. Ihre zunehmende Isolation in den Kamerabildern bezeugt indes, wie sehr es Claire gelingt, im Rausch der Beziehung ihre gewohnte Umgebung fast völlig auszublenden.
Die weitgehende Konzentration auf Claires Perspektive gibt Juliette Binoche die Gelegenheit zu einer eindrucksvollen Solo-Darstellung, in der sie ihre Figur wechselweise als leidenschaftlich, emotional und überschäumend oder als verschlossen, irritiert und überfordert vorführen kann. Mithalten kann mit dieser Bravourleistung nur Nicole Garcia, die ihre Psychiaterin als äußerlich kaum bewegte und eher missmutig wirkende, aber hellwache Frau darstellt, an der sich die Quecksilbrigkeit ihrer Patientin prächtig reibt. Die Männer in der Geschichte bleiben hingegen gutaussehende, aber als Charaktere recht blasse Objekte für das Begehren der Protagonistin – wenn der Plot ihnen nach einem entscheidenden Schnitt in der Handlung und einem Neueinstieg mehr Raum einräumt, bewirkt ihre fehlende Ausarbeitung dann auch prompt die eine oder andere Leerstelle.
Ein faires Spiel mit dem Zuschauer
Kalte Farben, viele Szenen im nächtlichen Dunkel und immer wieder Glasscheiben, in denen der Hauptfigur Spiegelbilder ihrer selbst oder aber Hindernisse erscheinen, verstärken den Eindruck einer entgleitenden Realität. Trotz dieser symbolhaften Anleihen bleibt Safy Nebbous Inszenierung eher kühl und schnörkellos als postmodern verrätselt. „So wie du mich willst“ spielt ein faires Spiel mit dem Zuschauer und weicht bei aller Ambivalenz nicht von seiner letztlich geradlinigen Struktur mit klar gesetzten erzählerischen Überraschungen und einer (vergleichsweise bescheiden gehaltenen) abschließenden Enthüllung ab.
Noch spannender als der Ausgang von Claires Irreführung ist es ohnehin, zu beobachten, mit welcher Absolutheit sich die alternde Frau aus Furcht vor der Einsamkeit auf ihr gewagtes Unternehmen einlässt. Internet und soziale Medien sind für sie wie auch für den Film – bei allem wachen Blick für deren problematische Aspekte – durchaus auch positive, hilfreiche Erscheinungen, die einen Ausweg aus ihrem Dilemma versprechen. Damit betritt Nebbou durchaus Neuland im Bereich der Thriller, die unmittelbar aus den Bedingungen des digitalen Zeitalters erwachsen sind. Während andere Filme von „Blackhat“ über „Searching“ bis „Assassination Nation“ in teils grellen Farben die Gefahren des Datenflusses, Teilens von Inhalten und des Internets an sich beschwören, schätzt „So wie du mich willst“ die Lage ganz anders ein: Der Mensch kann im Zweifel noch immer weit unheimlicher und unberechenbarer sein als jede digitale Erfindung.