Ein Bündel Kabel klebt am Körper der kleinen Benni, die durch ihre Löwenmähne hindurch die Psychiaterin fixiert, die sie gerade behandelt. Doch die Ärzte der Einrichtung sind weniger daran interessiert zu verstehen, was dem ungestümen Mädchen fehlen könnte, als daran, seine unbändige Kraft medikamentös auf ein sozial verträgliches Maß herunterzuregulieren. Denn Benni, die eigentlich Bernadette heißt, diesen Namen aber entschieden „zu tussig“ findet, ist mehr als das, was man üblicherweise einen „Wildfang“ nennt. Mit gerade mal neun Jahren ist sie aufgrund ihrer Wut- und Gewaltausbrüche durchs Netz beinahe jeder Institution gefallen und zu einem Fall geworden, der in der Kinder- und Jugendhilfe als „Systemsprenger“ bezeichnet wird.
Dass hinter Bennis unberechenbarem Verhalten eine schwere frühkindliche Traumatisierung steckt, ist den Behörden bekannt. Trotzdem sind die meisten Pädagogen, die sich um ihre Reintegration bemühen, angesichts ihres Verhaltens hilflos, auch weil sie psychoanalytisch nicht ausgebildet sind. Ohne die Dynamik interpersoneller Gewalterfahrung zu verstehen, nehmen sie die Aggression des Kindes persönlich und missdeuten sie als Ungezogenheit. Ein schmerzhaftes Versagen von Kommunikation tut sich auf. So versuchen die Betreuer immer wieder, Benni durch Disziplinierungsmaßnahmen in die Schranken zu weisen – womit sie deren Aggressionen nur noch verschlimmern. Die wenigen spezialisierten Therapieplätze sind belegt, und für eine Zwangseinweisung in die Psychiatrie ist das Mädchen noch zu jung.
Institutionelle Teufelskreise
Die Regisseurin Nora Fingscheidt hat für das Drehbuch zu ihrem ersten abendfüllenden Spielfilm viele Jahre in sozialen Einrichtungen recherchiert und die Erfahrungen der Mitarbeiter aufgegriffen. Ihre sensible Herangehensweise ist weder anklagend noch urteilend, sondern ein kraftvolles Plädoyer für das Verständnis der betroffenen Kinder. Besonders deutlich wird dabei der Einfluss fehlender Bindungen auf die psychische Entwicklung des Mädchens. Benni wandert von Pflegefamilien in Heime und wieder zurück in Notaufnahmestationen des Jugendamts. Dabei entsteht ein Teufelskreis, denn ihr unbehandeltes Trauma verunmöglicht es, Vertrauen in soziale Beziehungen zu fassen, die Benni so dringend bräuchte, um eine innere Stabilität zu finden.
Die verzweifelte Sozialarbeiterin Frau Bafané engagiert schließlich einen Anti-Gewalt-Trainer, der normalerweise mit älteren, straffällig gewordenen Jugendlichen zusammenarbeitet. Als Micha (Albrecht Schuch) Zeuge eines Ausbruchs von Benni wird, der wieder einmal eine Zwangssedierung zur Folge hat, spiegeln sich auf seinem Gesicht tiefe Emotionen. Man spürt, dass der erfahrene Boxkämpfer weiß, was das Mädchen durchmacht, weil ihm selbst traumatische Erfahrungen innewohnen.
Nichts außer dem bloßen Leben
Mit ruhiger Bestimmtheit setzt ihr Micha Grenzen, begegnet Benni dabei jedoch immer auf Augenhöhe. Es gelingt ihm, bei den Behörden eine experimentelle Einzelbehandlung durchzusetzen, in der er Benni mit in eine entlegene Hütte im Wald nimmt. Die Ruhe der Umgebung und die Präsenz eines empathischen Gegenübers ermöglichen dem Mädchen zum ersten Mal die Erforschung der eigenen Gefühlswelt. Schon nach kurzer Zeit zeigen sich erstaunliche Fortschritte, die jedoch nicht von Dauer sind, da Micha die Ressourcen für eine längere Betreuung fehlen. Bennis zaghafte Versuche sich zu öffnen, werden erneut von einer Zurückweisung bedroht, die sie nicht verkraften kann.
„Systemsprenger“ ist zu keinem Zeitpunkt ein nüchternes Sozialdrama, wie man es von einem deutschen Film vielleiht erwartet würde. Stattdessen wird das Publikum auf einer affektiven Ebene in den Film involviert, wie es auf so tiefgreifende Weise im Kino selten zu erleben ist. Ein Großteil verdankt sich dem außergewöhnlichen Spiel von Helena Zengel, die Benni mit einer derartigen Intensität verkörpert, dass jede Distanz zur Leinwand förmlich zerspringt. Albrecht Schuch markiert durch seine zurückgenommene und eindringliche Mimik einen nicht minder kraftvollen Gegenpol.
Schnelle Schnitte und dynamische Kameraeinstellungen lassen die Zuschauer auch physisch in Bennis Erleben eintauchen und machen ihre innere Getriebenheit erfahrbar, eine Haltlosigkeit, die berührt und betroffen macht. Auch über die beiden Sozialarbeiter, die für die Verletzlichkeit des Kindes einen Sensus haben, entsteht eine stellenweise kaum aushaltbare Nähe, weil man nicht umhinkommt, sich mit ihnen wirksame Hilfe zu wünschen – wohlwissend, dass diese sich nicht realisieren kann, weil das Sozialsystem andere Prioritäten setzt.
Eine unbändige, uneingelöste Sehnsucht
Für die starke Wirkung des Films ist die tonale Ebene von großer Bedeutung. Bennis verzweifelte Schreie aktivieren instinktiv primäre Erfahrung, wie sie wohl jeder Mensch im Angewiesensein auf die eigene Mutter kennt. Die ebenso unbändige wie uneingelöste Sehnsucht, die das Mädchen immer wieder zu der Frau zurücktreibt, die ihm nicht viel mehr als das bloße Leben geschenkt hat, ist ein schmerzhafter wie auch wahrhaftiger Moment der Geschichte. Er lässt sich kaum besser zusammenfassen als mit den Worten Nina Simones, die mit rauer Melodik über den Abspann klingen: „Ain’t Got No – I Got Life“.