Ein Mann geht mit einem kleinen Jungen zu den Resten einer großen Hacienda im Norden Kubas. „Hier lagen unsere Vorfahren noch als Sklaven in Ketten“, erzählt der Vater dem Sohn und beschwört ihn, wie wichtig es sei, im Leben weiterzukommen und seine Talente auszunutzen. Der kubanische Tänzer und Choreograph Carlos Acosta, genannt Yuli, wurde 1973 in einem armen Vorort Havannas geboren. Auf den Bühnen der Welt hat er, oft als erster Farbiger, in fast allen klassischen Balletten die männlichen Hauptrollen verkörpert; seit 1998 gehört er zum Royal Ballet im Covent Garden in London.
Der Weg zum Erfolg war schwer. In seiner Autobiografie „Kein Weg zurück: Die Geschichte eines kubanischen Tänzers“ beschreibt er seine Entwicklung von einem an Kultur wenig interessierten Straßenjungen zum weltweit bekannten Ballett-Star. Das Buch ist auch die Grundlage für den Film, den Acosta selbst produziert hat, mit britischen, spanischen, deutschen und kubanischen Partnern.
Mehr als ein konventionelles „Biopic“
„Yuli“ ist mit seinen verschiedenen Erzählebenen weitaus mehr als ein konventionelles „Biopic“. Das liegt an der spanischen Regisseurin Iciar Bollaín, die durch den sozialen Realismus in ihren Filmen und ihr politisches Engagement bekannt wurde. Gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem Drehbuchautor Paul Laverty, und Acosta gelingt es ihr, anhand von Acostas Leben drei Phasen der kubanischen Geschichte auf sehr ungewöhnliche Weise zu erzählen. In der Kindheit von Acosta in den 1980er-Jahren stand der karibische Sozialismus noch in voller Blüte; nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion folgten die Hungerjahre der „Sonderperiode“; in der Gegenwart weiß niemand, wohin die ungewisse Zukunft führt.
Die Kindheit des Tänzers in den Armenvierteln Havannas ist vom Konflikt mit dem Vater geprägt, einem LKW-Fahrer, der den Jungen gegen dessen Willen zur Ballettschule zwingt und ihn so aus der Familie und der vertrauten Umgebung reißt. Der Film erzählt von Acostas Anpassungsschwierigkeiten in der Fremde, in der ungewohnten Umgebung in London und anderswo. Yuli ist eine gebrochene Figur, einer der immer, auch auf dem Gipfel des künstlerischen Triumphs, von einer tiefen Sehnsucht nach seiner Familie und seinen kubanischen Wurzeln gequält wird.
Carlos Acosta spielt auch den Protagonisten, eine Art Regisseur im Film, der die Fragmente seines Lebens betrachtet: die Spielfilmszenen mit jüngeren Schauspielern und Tänzern sowie Elementen des experimentellen Tanztheaters. Über seine Lebensgeschichte hinaus rekapituliert der Film die Geschichte der Sklaverei auf Kuba, erzählt in einer Mischung aus Spielfilm, Ballett und persönlichem Engagement von zerrissenen Familien und dem Schicksal von Acosta. Sein Vater Pedro wird dabei sehr eindringlich und facettenreich von Santiago Alfonso verkörpert, einem der bekanntesten kubanischen Choreographen und einem der ersten Lehrer von Carlos Acosta. Der Film zeigt die Einsamkeit des Tänzers, aber auch wichtige Begegnungen wie etwa mit der Tanzlehrerin, die ihn immer wieder zum Weitermachen animiert, meisterhaft dargestellt von der kubanischen Schauspielerin Laura de la Uz.
Zwischen London und Havanna
Im Rohbau der nie vollendeten Kunsthochschule von Havanna träumt Yuli immer wieder von einem künstlerischen Neubeginn. Im wirklichen Leben pendelt Acosta zwischen London und Havanna und hat dort ein Theater für zeitgenössische Tanzkunst gegründet. In Kuba wurde der Film auf dem Festival des lateinamerikanischen Films begeistert gefeiert. Acostas Autobiografie durfte auf der Insel bislang nicht erscheinen; vielleicht ändert sich das, wenn der Film erst einmal in den kubanischen Kinos laufen wird.
Mit seiner faszinierenden Erzählstruktur, einer Mischung aus Traum, Erinnerung und Wirklichkeit, die an die besten Tanzfilme von Carlos Saura erinnert, mit der brillanten Bildgestaltung von Alex Catalán, die gängige Kubaklischees meidet, mit der sinfonischen Musik von Alberto Iglesias sowie den ausgezeichneten kubanischen Schauspielern ist „Yuli“ weder eine moralisierende Biografie noch eine moderne Heiligengeschichte aus dem Showgeschäft. Auch keine „Billy Elliot“-Paraphrase, kein Drama um filigrane Söhne, deren homophobe Väter sie nicht Musiker oder Tänzer werden lassen. Sondern eine vielschichtige Verarbeitung der Vergangenheit eines Künstlers und einer ganzen Nation.