Dene wos guet geit
Drama | Schweiz 2017 | 71 Minuten
Regie: Cyril Schäublin
Filmdaten
- Originaltitel
- DENE WOS GUET GEIT
- Produktionsland
- Schweiz
- Produktionsjahr
- 2017
- Produktionsfirma
- Seeland Filmprod./Film IGRF
- Regie
- Cyril Schäublin
- Buch
- Cyril Schäublin
- Kamera
- Silvan Hillmann
- Musik
- Linda Vogel
- Schnitt
- Cyril Schäublin · Silvan Hillmann
- Darsteller
- Sarah Stauffer (Alice Türli) · Nikolai Bosshardt · Fidel Morf · Ralph Rutishauser · Chloé Dudzik
- Länge
- 71 Minuten
- Kinostart
- 18.07.2019
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Genre
- Drama
- Externe Links
- IMDb | TMDB | JustWatch
Experimenteller Spielfilm, der am Beispiel einer Trickbetrügerin mit viel Humor und formaler Konsequenz das dystopische Porträt einer Gesellschaft entwirft, in der sich immer mehr ums Internet dreht. Die Stadt Zürich wird dabei hochgradig stilisiert als blitzsaubere, aber seelenlose Ansammlung von „Nicht-Orten“ inszeniert, in der Menschen nur noch am Rande auftauchen.
Drei ältere Herrschaften, zwei Männer und eine Frau, sitzen an einem Fluss und unterhalten sich. Die Frau arbeitet am Gericht als Übersetzerin und hat von „einem seltsamen Fall“ gehört, den sie nun weitergibt. Eine junge Frau habe sich einer älteren Frau gegenüber als „falsche Enkelin“ ausgegeben, um an ihr Erspartes zu gelangen. Einer der Männer glaubt, eine ähnliche Geschichte in einem Film gesehen zu haben. Er könne sich aber nicht mehr an den Filmtitel erinnern. Vielleicht, lacht er, seien Film und Geschichte auch ein und dasselbe gewesen.
Anschließend sieht man eine junge Frau telefonierend auf einer Verkehrsinsel. Alice Türli arbeitet in einem Call-Center, wo sie Angebote eines extrem günstigen Internet-Providers mit dem Namen „Everywhere Schweiz AG“ und die besonders günstige Krankenkasse „Dezentra“ an den Mann oder die Frau bringen soll. Zur „eigenen Sicherheit“ sollen die Angerufenen schon mal ein paar Daten zu ihrer Identität preisgeben: Geburtsdatum, Heimatort, Verfügungsgewalt über das Konto, ungefährer aktueller Kontostand.
In der Raucherpause drehen sich die Gespräche um die vernachlässigbare Höhe von zu erwartenden Erbschaften. Für sie selbst sei aber wohl sicher, dass man einmal nichts zu vererben habe.
Der Name des Künstlers und der Titel sind entfallen
Eine Bombendrohung hat dazu geführt, dass der Zürcher Bahnhof großräumig abgesperrt wurde. Schwer bewaffnete Polizisten führen Personenkontrollen durch und vertreiben sich die Zeit mit Gesprächen über Kunstausstellungen oder Melodien, die ihnen nicht aus dem Ohr gehen. Wie schon zu Beginn des Films fallen aber weder der Name des Künstlers noch der Titel des Songs ein. Und auch nicht der Titel dieses tollen Films, in dem sich zwei Polizisten während der Arbeit ineinander verlieben. Am Rande des Dialogs werden noch zwei weitere Themen angesprochen, die sich wie ein roter Faden durch „Dene Wos Guet Geit“, so der Originaltitel, ziehen: Das Internet ist im Großraum Zürich zu teuer und gleichzeitig zu leistungsschwach; und: Eine Senkung der Krankenkassenbeiträge wäre wünschenswert. Womit man wieder bei den Angeboten des Call-Centers wäre, in dem Alice Türli arbeitet. Die spaziert allerdings gerade durch die Stadt, um ihr karges Gehalt aufzubessern.
Eine ältere Dame Oberli ist im Begriff, von ihrem Konto 50.000 Schweizer Franken abzuheben, was durch die Höhe der Auszahlung ein etwas umständliches Prozedere erfordert. Mit dem Geld will Frau Oberli ihrer Enkelin Julia aus einer Notlage helfen. Doch am verabredeten Treffpunkt zur Geldübergabe wird Frau Oberli nicht von Julia erwartet, sondern von deren bester Freundin Sarah, als die sich Alice Türli ausgibt und mit einer erstaunlichen Ausdruckslosigkeit in Mimik und Stimme agiert. Man wird hier also Zeugen des Enkeltricks, von dem zu Beginn des Films die Rede war. 822.000 Schweizer Franken hat Türli so schon zur Seite gelegt.
Wenn das „Leben“ ins Internet verlagert wird
Mit stupendem Humor und formaler Konsequenz zeichnet der Schweizer Cyril Schäublin (Jahrgang 1984) in seinem bestechenden Spielfilmdebüt das dystopische Porträt einer Gesellschaft, die im Begriff steht, ihr „Leben“ komplett ins Internet auszulagern. Immer wieder stehen hier die Menschen in Gruppen beisammen und starren aufs Display eines Mobiltelefons. Immer wieder geht es darum, dass das Netz zu langsam oder zu teuer ist. Immer wieder müssen Passworte getauscht werden, um an Informationen oder Arbeitsplätze zu gelangen. Wenn man mit einem Paket Sneakers in eine Polizeikontrolle gerät, ist es von Nutzen, wenn man Bestellung und Rechnung im Mobiltelefon bei sich trägt. Wenn die Zahl der verfügbaren Navigationsgeräte bei der Polizei begrenzt ist, sollte man, wenn man denn bei der Ermittlungsarbeit aufs private Mobiltelefon zurückgreifen muss, auf das verfügbare Datenvolumen achten! Sonst ist die Erfolgsquote bei der Aufklärung von Verbrechen gern mal „eher schwankend“.
Der Film porträtiert Zürich als ein Kompendium von „Nicht-Orten“: Brutalistische Architektur, zubetonierte Plätze, Verkehrsinseln, begrünte Parkhäuser, Büros, Wartezimmer, Geschäftsräume, Über- und Unterführungen, kühle Fassaden – alles blitzsauber gehalten von omnipräsenten Putzkolonnen und gesichert von einer hochgerüsteten Polizei. Dazu passt, dass der Kameramann Silvan Hillmann nachdrücklich daran arbeitet, die Menschen möglichst an den Rand der Einstellungen zu drängen. Immer wieder bleiben die Einstellungen kurzzeitig menschenleer, durchzogen von den Bewegungen des Verkehrs; immer wieder erinnern sie an die Bilder von Überwachungskameras, die Menschen eher zufällig registrieren. Die hochgradig stilisierte Kameraarbeit, die an die Filme von Robert Bresson oder Angela Schanelec erinnert, verstärkt den Eindruck einer Realität, in der es vorzüglich darum geht, einen privilegierten Zugang zum permanenten Datenfluss zu bekommen, wenngleich die dabei generierten Informationen und Erfahrungen in Echtzeit kaum noch zu verarbeiten sind.
Ein Außen existiert nicht mehr
Ein Außen existiert nicht mehr. Auch Terroristen kommunizieren längst mittels Mobiltelefonen und Passwörtern. So erinnert es jedenfalls eine Polizistin am Ende, wenngleich ihr der Titel dieses sehr, sehr spannenden Films – „megakrass, mit Slow Motion“ – beim besten Willen nicht mehr einfällt.
Die kriminelle Karriere von Alice Türli, geboren 1992 in Gmürlos, Kanton Uri, endet dagegen (vorerst) vergleichsweise unspektakulär und formvollendet: sie lässt sich widerstandslos verhaften. Zu sagen, dass sie dabei fast erleichtert gewirkt habe, wäre wohl zu viel des Guten.