Beklemmendes Drama über eine arbeitslose Texterin, die über Maßnahmen des Arbeitsamts wieder an eine Stelle gelangen will, aber nur die umfassende Entfremdung in einer entsolidarisierten Gesellschaft kennenlernt.
Alice, 39 Jahre alt, Single, war schon mal fest angestellt, doch aktuell schwärmt sie über die Freiheiten, die ihr die Arbeit als „freie Autorin“ im hippen Berlin lässt. In Wahrheit ist Alice arbeitslos und hält sich mit Sozialhilfe und lausigen Jobs in der Marktforschung über Wasser, die mit Tankgutscheinen bezahlt werden. Ab und zu muss sie bei der Agentur für Arbeit vorstellig werden, wo dann immer die nächsten sinnlosen Fortbildungsmaßnahmen drohen, die in aller Regel von zynischen, ihrerseits verbitterten Referenten exekutiert werden. Hauptsache, die Statistiken signalisieren annähernde Vollbeschäftigung. Besteht man dann auch noch auf seiner Menschenwürde, droht die Bestrafung in Gestalt einer Minderung der Beihilfe. Alice ist permanent unter Druck, obschon ihre Tage lang sind.
Die Filmemacherin Lucia Chiarla hat für ihr Spielfilmdebüt „Reise nach Jerusalem“ (Interview zum Film) Eva Löbau als Hauptdarstellerin gecastet, weil sie deren Performance in Maren Ades Fremdscham-Klassiker „Der Wald vor lauter Bäumen“ so beeindruckt fand. Tatsächlich fällt einem keine andere deutsche Schauspielerin ein, die souveräner und schmerzhafter das tägliche Scheitern im und am Alltag in Szene setzen könnte als Löbau, da sie wider alle Empirie die Scheinexistenz von Freiheit und Enthusiasmus tatsächlich „verkörpern“ kann, ohne vorschnell Mitleid zu haschen.
„Reise nach Jerusalem“ zeichnet das Bild umfassender Entfremdung als Szenario eines sich allmählich, aber unerbittlich steigernden Elends, in dem es trotzdem fortwährend gilt, die Fassade des Erfolgs und der Zufriedenheit zu wahren. Wobei der Film erstaunlich offen lässt, inwieweit Alice ihre eigene Situation kritisch reflektiert oder inwieweit die Diskrepanz von Schein und Sein milieuspezifisch zu verallgemeinern ist. Das Prekariat wird kollektiv beschwiegen.
Giftige Kommentare an der Supermarkt-Kasse
Alices neuer Nachbar ist Künstler, aber auch Dienstleister, wenn bei einem Junggesellinnenabschied gerade mal ein Stripper gebraucht wird. Und an der Kasse im Supermarkt wird schon mal giftig kommentiert, wenn das Geld für den Einkauf nicht langt. Auch taugen Tankgutscheine nur bedingt als Zahlungsmittel, da sich in der Großstadt kaum noch jemand ein Fahrzeug leisten mag. Alices Eltern ahnen, dass mit der Existenz ihrer Tochter etwas nicht stimmt, investieren das ihr zugedachte Erbe aber dennoch lieber in ein Wohnmobil, um sich selbst einen lang gehegten Traum zu erfüllen.
So fügt sich ein Puzzleteil zum anderen und skizziert in einer vielleicht etwas zu offenkundig konstruierten Szenenfolge eine individualisierte und entsolidarisierte Gesellschaft, in der es zum guten Ton gehört, sich für den Arbeitsmarkt selbstoptimierend zuzurichten, obwohl die aufwändig geschönten Lebensläufe dann unter Umständen nur dazu führen, dass man für die wenigen angebotenen Jobs als „überqualifiziert“ gilt.
Fortwährend wird auf allen gesellschaftlichen Ebenen viel Arbeit in fiktive Narrative investiert: sei es beim Startup, sei es bei der Tupper-Party. Als Alice tatsächlich einmal zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen wird, inszeniert der Film einen Teufelskreis aus Armut und körperlichen Gebrechen, Airbnb und Obdachlosigkeit, Fiktionalisierung und Fremdscham, so dass schließlich auch Alice passen muss. Sie lässt ihre Misere kurz hinter sich und findet in der Provinz die Möglichkeit, einmal „Reise nach Jerusalem“ als Gesellschaftsspiel und nicht als gesellschaftliche Realität zu erfahren. Und siehe da: Alice verfügt über hinreichend Erfahrung, um sich hier, im Abseits der Abgehängten, als Siegerin zu beweisen. Man gönnt es ihr von Herzen, wenngleich sich der Eindruck eines Happy Ends nicht einstellen mag.