„Hexenkind“ – so ruft die unheimliche Gestalt im schwarzen Umhang die zwölfjährige Clara zu sich. Dort, wo Clara und ihr bester Freund Oskar eben noch auf der beschaulichen Straße unterwegs waren, ist nur noch dichter Nebel zu sehen. Von bedrohlichen Lauten umspielt, nähert sich die geflügelte Gestalt, bis Oskar seine Freundin aus dem Nebel herausreißt.
Ganz gewöhnlich scheint Clara wirklich nicht zu sein: Als Oskar wieder einmal einen Grund dafür nennt, warum er keinen Besuch empfangen kann, weiß das Mädchen, dass er lügt. Sie könne es riechen, sagt sie, er sei nervös. Dass sie tatsächlich ein „Hexenkind“ ist, ahnt Clara nicht, und als sie es schließlich erfährt, will sie, die in der Schule so sehr bemüht ist, ja nicht aufzufallen, einfach nur „normal“ sein.
Ein solches unscheinbares, ganz und gar nicht außergewöhnliches Leben hat sich auch ihre Mutter für Clara gewünscht und deshalb nie von ihrer eigenen Schwester Isa erzählt, die im Wald ein abgeschiedenes Leben als Wildhexe führt. Doch genau dort muss Clara nach weiteren Zwischenfällen hin, um zu lernen, ihren „Wildsinn“ einzusetzen. Clara bleibt keine Wahl, denn die unheimliche Gestalt aus dem Nebel ist hinter ihr her. Die „Chimära“ genannte Harpyie will mit Claras Blut eine grausame Hexe aus ihrem Grab befreien. Nur mit Hilfe ihres „Wildsinns“ kann sich Clara gegen Chimära zur Wehr setzen.
Schon mit ihren Romanen über die „Hüterin der Wahrheit“ hat die dänische Autorin Lene Kaaberbøl dem Motiv der Hexe in der Kinder- und Jugendliteratur eine interessante Variante hinzugefügt: Als „Beschämerin“ wird die zentrale Figur von den meisten Menschen gemieden und gefürchtet, weil sie sehen kann, wofür sie sich am meisten schämen.
Kaaberbøls sechsteilige Reihe über die Wildhexe Clara, die mit Tieren in einer besonderen Verbindung steht und die Verpflichtung hat, die „wilde Welt“ zu beschützen, richtet sich an eine etwas jüngere Leserschaft und ist auch nicht im Mittelalter, sondern in der Gegenwart angesiedelt. Doch genau wie bei der „Hüterin“-Reihe bestechen die Kinderbücher über Clara dadurch, dass sie das „Dunkle“ im wörtlichen wie übertragenen Sinne weder im fantastischen noch im realistischen Kontext ausblenden. Claras Antagonistinnen sind keine lächerlichen Gestalten; Schmerz und Leid treten nicht nur im fantastischen Gewand, sondern auch innerhalb von familiären oder freundschaftlichen Beziehungen zutage, und zur Beschäftigung mit dem Leben in der Natur gehört auch der Umgang mit dem Tod.
Das Drehbuch bleibt diesem Duktus der Vorlagen treu, auch wenn es eine eigenständige Geschichte erzählt, in der sich Elemente aus mehreren Bänden finden, aber auch zahlreiche Unterschiede, etwa in der Charakterisierung der Figuren. Zum Nachteil gereicht dies dem Film eher selten; bei der Ausgestaltung der Clara-Figur ist sogar das Gegenteil der Fall. Die mit Gerda Lie Kaas hervorragend besetzte Wildhexe Clara verströmt einen spröden Charme und entzieht sich geschickt zwei gängigen Stereotypen in der Charakterisierung von Mädchenfiguren: Sie entspricht weder dem Klischee der rotzig-trotzigen, manchmal etwas penetrant aufsässigen Rothaarigen, noch ist sie das verschüchterte, unsichere graue Mäuschen, das erst mit viel Unterstützung seine eigene Stärke erkennt.
Ebenso überzeugend fällt die Mischung realer Aufnahmen und visueller Effekte aus. Manche Tiere und Habitate sind zwar deutlich als digitale Kunstwerke erkennbar, etwa das imposante Nestgebilde, in dem die Chimära zuhause ist; bei ihr wie bei anderen Figuren haben Kostüm- und Masken-, aber auch das Sound-Department großartige Arbeit geleistet. Dass daneben auch viele echte Tiere und Landschaftsaufnahmen zu sehen sind, unterstreicht das Thema des Films. Die Bilder der im doppelten Sinne fantastischen Schauplätze mögen zwar digital überarbeitet sein, fangen aber dennoch die „Magie der Natur“ ein: die Schönheit des Morgenlichts, die Erhabenheit, die ein Wald ausstrahlen kann, das Gefühl der Freiheit beim Anblick einer weiten Graslandschaft. Funken und Blitze sprühende Zauberstäbe sucht man hingegen vergebens. Das bringt es aber auch mit sich, dass die Darstellung der Hexenkräfte manchmal ins Esoterische zu kippen droht.
Obwohl eine Stärke der Inszenierung in ihren sparsamen Dialogen besteht und nicht jedes Vorkommnis gleich „übererklärt“, hätte ein wenig mehr Klarheit über die Prämissen der Wildhexenwelt gutgetan. Für jüngere Kinder, die durch die harmlosen Abenteuer von Hexe Lilli oder Bibi Blocksberg betont freundliche, überwiegend alltagsnahe Settings gewohnt sind, fallen viele Szenen ohnehin zu düster und verängstigend aus. Für die Zielgruppe der Bücher, Kinder ab neun oder zehn Jahren, die allmählich auch eine gewisse Genrekompetenz erwerben, bietet „Wildhexe“ spannende Unterhaltung mit großartigen Bildern, einer ordentlichen Portion Grusel und einer tollen Protagonistin, die sich den dunklen Mächten schließlich mutig entgegenstellt.