Als im letzten Drittel von „Shoplifters – Familienbande“, dem neuen Film von Hirokazu Kore-eda, einmal etwas richtig schiefgeht, wird etwas sichtbar – und, wie auch ausführlich gezeigt wird, für die Medien zum Skandal –, was vor der Öffentlichkeit unsichtbar bleiben wollte. Der Befund: Eine „Pseudo-Familie“ von kleinkriminellen Tagelöhnern, Pensionsbetrügern, Sexarbeiterinnen, vielleicht Mördern, hat ein kleines Kind entführt und Monate lang bei sich versteckt. Jetzt präsentieren sich die Eltern der kleinen Yuri immerhin sehr glücklich, dass sie ihr kleines Töchterchen zurückhaben. Niemand spricht mehr an, dass die Entführung Yuris erst mit Verspätung bekannt wurde, weil die jetzt so frohen Eltern ihre Tochter zwei Monate nicht wirklich vermissten.
Dieser Sachverhalt führt zurück zum Anfang des Films, der eine ganz andere Version der „Pseudo-Familie“ erzählt: Nach der Arbeit auf dem Bau trifft sich der Vater Osamu noch mit dem ungefähr neunjährigen Shota, um mittels einer bestens einstudierten Choreografie und nach Einkaufsliste in einem Supermarkt Lebensmittel zu stehlen. Am dem Heimweg entdecken sie auf einem Balkon ein kleines, hungriges und frierendes Mädchen, das offenbar von den Eltern ausgesperrt worden ist. Sie nehmen es in ihre Obhut. Als sie Yuri am folgenden Tag zurückbringen wollen, entdecken sie am Körper des Kindes Spuren von Gewalt und Verbrennungen. Aus Yuris Elternhaus hört man sich streitende Erwachsene. Osamu und seine Frau Nobuyo beschließen kurzerhand, das Mädchen bei sich aufzunehmen.
Vom Alltag in einem Mehrgenerationen-Haushalt
In der Folge erzählt der Film, durchaus auch komisch, vom Alltag in einem Mehrgenerationen-Haushalt, der von der Hand in den Mund lebt und ständig darauf achten muss, nicht in den Blick der Öffentlichkeit zu geraten. Großmutter Hatsue lebt von der Pension ihres verstorbenen Mannes. Die ältere Tochter Aki arbeitet in einer Peepshow, in der Mädchen sich den Blicken der Betrachter in Schuluniformen präsentieren. Gegen Aufpreis ist auch „richtiger“ Kontakt möglich. Die Familie lebt auf engstem Raum in einer kleinen Hütte, die der Großmutter gehört, an der Peripherie einer urbanen Landschaft. Manchmal sieht man im Hintergrund den Schnellzug Shinkansen durchs Bild rauschen, was daran erinnert, dass es noch ein anderes, hochtechnologisches Japan gibt, von dem in „Shoplifters“ nichts zu sehen ist.
Interessanterweise ähnelt das Ambiente aus Nicht-Orten, Autobahn-Brücken und fast dörflicher, randständiger Abgeschiedenheit, das Hirokazu Kore-eda skizziert, jenem aus Alice Rohrwachers „Glücklich wie Lazzaro“. Man kann an Doug Saunders’ Studie „Arrival City“ denken, die davon handelt, dass in allen Weltgegenden eine Migration vom ländlichen Elend ins suburbane Elend stattfindet, weil der urbane Raum noch ein Glücksversprechen darstellt. Ein wichtiges Moment bei den Bewohnern der „Arrival Cities“ stellt nach Saunders die tief verankerte Loyalität zur Familie dar. Womit wir wieder bei Hirokazu Kore-eda wären, dessen Filme ja häufig tiefe Meditationen darüber sind, was „Familie“ konkret bedeutet, was „Familie“ bewirkt und wofür „Familie“ steht.
Zwei Familienmodelle stehen einander gegenüber
Auch in „Shoplifters“ stehen einander zwei Familienmodelle gegenüber: da ist einerseits die biologische Familie von Yuri, die geprägt ist von Gewalt, Missgunst und Lieblosigkeit. Und da ist andererseits die seltsame Patchwork-Familie, die Osamu und Nobuyo um sich versammelt haben. Sie steht für Zugewandtheit, Sorge und Zusammenhalt. Allerdings vermeidet Kore-eda sehr bewusst jeden Anflug von Armutskitsch, wenn er nicht verschweigt, dass zumal die erwachsenen Mitglieder der Patchwork-Familie sehr konkret materialistischen Interessen folgen und auch Egoismen gepflegt werden. Wenn man sich seine Familie selbst wähle, heißt es an einer Stelle, sei die Bindung stärker, weil es keine falschen Erwartungen gäbe. Und später im Film wird Nobuyo fragen: „Macht eine Geburt einen schon zu einer Mutter?“
Ganz nebenbei und gewiss nicht in sozialkritischer Absicht sammelt „Shoplifters“ zudem Impressionen des gegenwärtigen Japan, wenn Osamu nach einem Arbeitsunfall keine Lohnfortzahlung erhält, wenn Nobuyo, die als Büglerin arbeitet, damit konfrontiert wird, ihren Job und ihr Einkommen aufgrund der schlechten Auftragslage halbieren zu müssen, und wenn der Mann vom Versorgungsamt auch im Immobilienhandel tätig war oder ist. Die Patchwork-Familie erweist sich als hinreichend flexibel und routiniert, um auch größere Krisen zu bewältigen. Mitunter braucht es auch die solidarische Geste eines Ladenbesitzers, der Shota damit konfrontiert, dass er durchaus nicht unsichtbar ist, aber von einer Anzeige absieht. Gemeinsam genießt die Familie kleine Sensationen wie ein Feuerwerk oder auch einen Ausflug ans Meer.
Früher oder später wird die seltsame Idylle zusammenbrechen
Trotzdem ist klar, dass es sich um ein Spiel auf Zeit handelt. Früher oder später wird die seltsame Idylle zusammenbrechen. Zumal sich auch moralische Fragen stellen. Shota wurde zum Dieb, weil Osamu ihn einst lehrte, dass die Waren im Supermarkt gewissermaßen noch niemandem gehören und der Diebstahl deshalb irgendwie nicht illegitim sei. Später muss er jedoch erleben, dass Osamu Autos aufbricht und Gegenstände entwendet, die sehr wohl jemandem gehören. Was den Jungen doch sehr nachdenklich macht.
Als dann Yuri einen Fehler macht und Shota sich für sie „opfert“, als die Patchwork-Familie sichtbar und zum Skandal wird, klären sich nicht nur die bis dahin nie ganz klaren „Familienverhältnisse“ auf. Aber selbst aus dieser Katastrophe geht der Kern der Patchwork-Familie gestärkt hervor. Dass die Welt nach außen hin wieder in den Fugen ist, muss jedoch die kleine Yuri ausbaden, die sich am Schluss dieses meisterlichen, aber nie moralisierenden Films wieder allein auf dem Balkon wiederfindet, auf dem sie einst frierend und misshandelt von ihren „Ersatzeltern“ entdeckt worden war.