Die Grauen der Shoah

Dokumentarfilm | Frankreich 2014 | 52 Minuten

Regie: Véronique Lagoarde-Ségot

Ein Dokumentarfilm über Opfer der Shoah jenseits der Vernichtungslager und die Dokumentation der Mordtaten durch russische Kameraleute, die als Mitglieder der Roten Armee arbeiteten. Dabei geht es darum, das kollektive (Filmbild-)Gedächtnis des Faschismus und der NS-Verbrechen zu erweitern, wozu der Film eine Fülle an Archivmaterial zusammengetragen hat. Problematisch ist allerdings der Off-Kommentar des Films, der allzu undifferenziert die Dokumente russischer Kameraleute, mit denen er sich auseinandersetzt, als Sowjet-Propaganda abtut. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
SHOAH, LES OUBLIÉS DE L'HISTOIRE
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
2014
Produktionsfirma
ARTE France/Mélisande Films
Regie
Véronique Lagoarde-Ségot
Buch
Valérie Pozner · Alexandre Sumpf
Kamera
Véronique Lagoarde-Ségot
Schnitt
Véronique Lagoarde-Ségot
Länge
52 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
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absolut MEDIEN
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Diskussion
Es war bekanntlich Claude Lanzmann, dessen Kritik an Alain Resnais’ „Nacht und Nebel“ (1955) eine heiß geführte theoretische Debatte zum Pro und Contra (film-)bildlicher Repräsentationen der Shoah ausgelöst hat. Von einer grundsätzlichen Nicht-Darstellbarkeit des Grauens der Judenvernichtung in den Gaskammern des „Dritten Reichs“ ausgehend, hat Lanzmann selbst mit „Shoah“ (1985) ein wegweisendes Plädoyer für die verbale Zeugenschaft und damit die bewusste Bilderlosigkeit angesichts der Abwesenheit aller Spuren, der „negativen Realität von Auschwitz“ (Ralph Buchenholz) vorgelegt. Für den deutschen Sprachraum kümmert sich das DVD-Label „absolut MEDIEN“, bei dem 2015 auch eine mit informativen Booklet-Texten (u.a. von Volker Schlöndorff) versehene Ausgabe von Resnais’ „Nacht und Nebel“ erschien, maßgeblich um das Werk Lanzmanns. Nicht nur durch die Edition von „Shoah“, sondern auch mit der Veröffentlichung etlicher Zusatz- und Komplementärfilme rund um dieses filmische Monument macht sich „absolut MEDIEN“ absolut verdient: „Shoah Fortschreibungen“ aus dem Jahr 2017 umfasst vier Filme, darunter die großartigen „Der Karski-Bericht“ und „Der Letzte der Ungerechten“, während die neueste DVD der „Shoah“-Serie mit dem Titel „Vier Schwestern“ (2018) bisher unveröffentlichtes Material zugänglich macht. In diesem Editions-Kontext brachte das Label nun „Die Grauen der Shoah – dokumentiert von sowjetischen Kameramännern“ heraus, eine ARTE-Dokumentation von Véronique Lagoarde-Ségot, die im Original „Shoah, les Oubliés de l’Histoire“ hieß und 2015 ausgestrahlt wurde. Gemeint sind mit diesen „Vergessenen der Geschichte“ die Opfer der Shoah jenseits der Vernichtungslager: jene auf mindestens drei Millionen geschätzten Juden, die mehr oder weniger an Ort und Stelle ihrer sowjetischen – beziehungsweise erst nach der Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Pakts sowjetisch gewordenen ehemaligen polnischen, ukrainischen und baltischen – Heimatdörfer oder an Stadträndern exekutiert wurden, von als „Einsatzgruppen“ bezeichneten Erschießungskommandos, mobilen Waffen-SS-Truppen, der Sicherheitspolizei, des SD und anderen deutschen Einheiten. Das Massaker in Babyn Jar bei Kiew, mit über 33.000 jüdischen Opfern in nur zwei Tagen, beschließt als vielleicht bekannteste Szene dieser Massenmordserie auch Lagoarde-Ségots Film. Paradox, denn: „Von dieser Katastrophe fehlt jede Spur.“ Das kollektive (Filmbild )Gedächtnis des Faschismus und der NS-Verbrechen zu erweitern ist somit die wesentliche Zielsetzung des Films, da dieses – so wird auch zu Beginn argumentiert – oft nur auf die Bilder der befreiten Häftlinge des Lagers von Auschwitz reduziert bleibt (und gerade die sind nachinszeniert: Die sowjetischen Frontkameraleute kamen zu spät beziehungsweise waren nicht adäquat ausgerüstet). So historisch zentral aber die grundlegende Idee der Doku auch ist, so umfangreich die Bildrecherchen waren und so vielfältig die verwendeten Archivquellen sein mögen – herausgekommen ist doch ein in mehrerlei Hinsicht problematisches Ergebnis. Dies hat vor allem mit dem Off-Kommentar zu tun. Anders als in den Schriften der Ideengeber des Films, des ungenannten Slawisten und Filmhistorikers Jeremy Hicks sowie der genannten Valéry Pozner und Alexandre Sumpf, die 2014 im Pariser „Mémorial de la Shoah“ die gut dokumentierte Ausstellung „Filmer la guerre: les Soviétiques face à la Shoah (1941-1946)“ verantworteten (in deren Kontext auch der Film entstand), wird die Komplexität des stalinistischen Kriegs-Diskurses auf die rohe These der Propagandafunktion heruntergebrochen: Bis zurück zu Eisenstein wird da ausgeholt, um zu „belegen“, dass Kunst und Kino der UdSSR im Dienst der Macht standen. Die Frontkameras eines Roman Karmen oder Mark Trojanovskij werden zu den „Augen des Kremls“, das von ihnen gefilmte Material zu Pseudodokumenten, durchtränkt, manipuliert und funktionalisiert von den Mobilisierungs-, Durchhalte- und Racheparolen des Sowjet-Narrativs. Ja, die Kameraleute an der Seite der Roten Armee waren Teil eines ideologischen Apparats, aber welche Heeresdokumentaristen wären das nicht? Ja, die Shoah wurde in der Sowjetunion – im Kontext eines latenten, dann offenen Antisemitismus – insofern verschwiegen, als in den ausgewählten Einstellungen und Kommentaren der editierten Filme über die Nazi-Gräuel ab 1941 eben nicht die jüdische Identität der Opfer explizit wurde, sondern diese vielmehr als „friedliebende Sowjetbürger“ neutralisiert wurden. Aber wozu dann der Filmtitel – wenn die Hauptthese genau gegenteilig lautet? „Fatal wird es“, so Hendrik Feindt schon 2015 in der SZ, „wo der Film einem Umkehrschluss aufsitzt und Material deutscher Soldaten sowie litauischer und ukrainischer Sympathisanten einmontiert, die Ausschreitungen und Erschießungen filmten. Gleichzeitig hören wir: ‚Um die Opfer als Juden zu identifizieren, müssen wir uns die deutschen Aufnahmen ansehen.‘ Das ist, als läge die Wahrheit bei den Tätern.“ Eine ausführliche Dokumentation über die Forschungshintergründe zum Thema hätte Irritationen wie diese auffangen können. Auch der Bonusfilm der DVD, „Die von den deutsch-faschistischen Invasoren in der UdSSR verübten Gräueltaten“ (1946), gezeigt als einstündiger Beweisfilm der Anklage bei den Nürnberger Prozessen, wäre mit Zusatzinformation besser einzuordnen. Umgekehrt hätte man den akribisch zusammengesammelten Archivbildern des Hauptfilms mehr Raum zum Atmen gegönnt – weniger vereindeutigende Seh- und Verstehhilfen in Form des ergänzenden Autoren-Kommentars also. Denn das Projekt „Filme trotz allem“, die Sichtbar- und Hörbarmachung des Unvorstellbaren also, das lehrt das Shoah-im-Film-Spektrum von Resnais bis Lanzmann, bedarf der Präzision und der Haltung – als ideologischer Unbeugsamkeit.
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