Drama | Türkei/Deutschland/Frankreich/Schweden/Katar 2017 | 128 Minuten

Regie: Semih Kaplanoglu

Ein spirituell aufgeladenes Endzeitdrama, in dem zwei Wissenschaftler in einer von Genmanipulation und Klimawandel zerstörten Natur nach einer Überlebensformel für die Menschheit suchen. Der mit visuell attraktiven Bildern aufgeladene Film, in denen sich die Motive dystopischer Science-Fiction-Filme mit bildgestalterischen Anleihen aus den Werken von Andrej Tarkowski verbinden, plädiert für eine spirituelle, sufistisch geprägte ganzheitliche Weltsicht. Dabei werden allerdings Zivilisation und Mystizismus leichtfertig gegeneinander ausspielt. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
GRAIN
Produktionsland
Türkei/Deutschland/Frankreich/Schweden/Katar
Produktionsjahr
2017
Produktionsfirma
Kaplan Film/Heimatfilm/Dulac Prod./The Chimney Pot/Galata Film/TRT/ZDF/arte
Regie
Semih Kaplanoglu
Buch
Semih Kaplanoglu · Leyla Ipekçi
Kamera
Giles Nuttgens
Schnitt
Semih Kaplanoglu · Osman Bayraktaroğlu · Ayhan Ergürsel
Darsteller
Jean-Marc Barr (Prof. Erol Erin) · Ermin Bravo (Cemil Akman) · Grigori Dobrygin (Andrej) · Cristina Flutur (Alice) · Lubna Azabal (Beatrice)
Länge
128 Minuten
Kinostart
26.04.2018
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama
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Heimkino

Verleih DVD
Piffl (16:9, 1.78:1, DD5.1 engl./dt.)
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Spirituell aufgeladenes, visuell eindrucksvolles Schwarz-weiß-Endzeitdrama des türkischen Regisseurs Semih Kaplanoglu auf den Spuren von Andrej Tarkowski.

Diskussion
Mit „Bal - Honig“ (fd 40 042), dem dritten Teil der „Yusuf“-Trilogie, gewann der türkische Regisseur Semih Kaplanoğlu 2010 den „Goldenen Bären“ der „Berlinale“. Jetzt ist er mit dem aufwändigen und in bildstarkem Schwarz-weiß inszenierten Endzeitdrama „Grain“ zurück auf der Leinwand – zwischen Science Fiction und Selbsterkenntnis, Fortschrittskritik und Mystizismus. Ambitionierte Filmkunst zwischen Tarkowski und dem Koran. Irgendwann in naher Zukunft. Der Raubbau an der Natur und der Klimawandel haben weite Teile der Erde unbewohnbar gemacht. Das reiche Hunderttausendstel der Gesellschaft hat es sich hinter einer magnetischen Mauer in den Städten bequem gemacht. Der Zugang ist durch einen genetischen Code gesichert; in den heruntergekommenen Vorstädten toben Kämpfe zwischen bewaffneten Polizisten und wütenden Demonstranten. Doch die vermeintliche Idylle in den Gated Communities ist bedroht. Die mit Hilfe synthetischer Biologie produzierten Nutzpflanzen sterben ab; der reichen Elite droht die Nahrung auszugehen. Der Wissenschaftler Erol Erin, der von einem Landwirtschaftskonzern mit der Ursachenforschung betraut wird, erinnert sich an seinen inzwischen entlassenen Kollegen Cemil Akman. Der hatte einst in seiner „Theorie des genetischen Chaos“ vehement vor der Manipulation der Natur gewarnt. Erin findet Akman im Ödland vor den Toren der Städte, in einer von Überwachungsdrohnen beherrschten Einöde, deren Böden durch Übersäuerung längst unfruchtbar geworden sind. Unheilbare Krankheiten breiten sich hier epidemisch aus, Flüchtlingstrecks ziehen hoffnungslos von Zaun zu Zaun, da man die Haut vor dem sauren Regen schützen muss und sich der chemische Dünger in der Erde selbst entzündet. Eine dystopische Szenerie, in der dem Wissenschaftler jeder rationale Weg zur Erkenntnis versagt bleibt. Denn es waren Biologie und Gentechnik, die die Grundlagen des Lebens vernichtet haben; also bleibt nur noch die Suche nach einer These oder nach einem spirituellen Sinn, um die Menschheit zu retten. Nicht von ungefähr heißt der Weggefährte, mit dem sich Erin auf den Weg in diese karge Landschaft macht, Andrei; die Reise durchs unbewohnbare Gebiet wandelt sich wie in Andrej Tarkowskis „Stalker“ (fd 22 921), zur Reise ins innere Ich. Ähnlich wie das russische Drama ist auch „Grain“ nicht wirklich ein Science-Fiction-Film. Denn nachdem Erin und Andrei in die unbewohnbare Zone hinter der magnetischen Mauer eingedrungen sind, wächst mit jedem Schritt die Erkenntnis, dass die Menschheit mit Ratio und einer Aufklärung, die sich nur an materiellen Werten orientiert, nicht zu retten ist. Der geschasste Akman bietet eine Lösung jenseits dieser Vernunft an. Er begrüßt den Gast aus der Stadt mit den Worten „Mit mir kommen sie hier nicht mehr zurück“ und schlägt die vollständige Auslöschung des Egos vor, was bis zur geplanten Selbsttötung geht. Er unterzieht Erin diversen Prüfungen, mit dem Ziel, zur Ganzheitlichkeit zurückzufinden, zum Respekt vor der Natur, oder, biblisch ausgedrückt, der Schöpfung. Der aus dem Elfenbeinturm verstoßene Wissenschaftler macht sich zu Fuß auf den Weg der Erkenntnis und wird zum Propheten, der die innere Natur der Dinge erkundet. Für Kaplanoğlu ist sein neuer Film „eher Sufi als Sciene Fiction“. „Grain“ beruht auf einer Koransure, die im Sufismus, einer mystisch-toleranten Auslegung des Islam, besonderen Stellenwert hat. „Wir befinden uns in einer Ära, wo man glaubt, alles beherrschen und alle Probleme lösen zu können. Aber wenn dem so wäre, befände sich die Welt nicht in dem Zustand, in dem sie gerade ist“, stellt der Regisseur fest und präsentiert seinen Diskurs „über die innere Natur der Dinge und eben auch des Menschen“. Kaplanoğlus Botschaft ist damit nicht nur nahe am spirituellen Charakter seines russischen Vorbildes Tarkowski, sondern auch am esoterischen Zeitgeist, der nach einem Sinn jenseits des Materialismus sucht. Nach einem geistigen Überbau, an dem sich religiöse Gemeinschaften orientieren, seitdem es die Sehnsucht nach einem höheren Ganzen gibt. Die beeindruckenden Bilder, die Kameramann Giles Nuttgens in den heruntergekommenen Stadtlandschaften von Detroit, in der nordrhein-westfälischen Industrieprovinz und in den Weiten der anatolischen Steppenlandschaft fotografiert hat, illustrieren die Reise der Protagonisten aus der Unruhe der Städte in die kontemplative Ruhe alttestamentarischer Landschaften. Bei deren Durchschreiten die Last der Zivilisation abfällt und die spirituelle Erkenntnis wächst. Hinter der visuellen Attraktivität, den künstlerisch betörenden Bildern und der internationalen Besetzung schlummert allerdings auch der Samen eines durchaus aggressiven Missionsgedanken. So richtig es ist, dass der aus der Wissenschaft entwickelte Gedanke, die Erde und die Natur zu beherrschen und zu manipulieren, zur Zerstörung der Umwelt führte, so bedenklich ist der Versuch, Ratio und Spiritualität gegeneinander auszuspielen, die Errungenschaften der Zivilisation einem mystischen Gedankenspiel zu opfern, von dem man auch nicht weiß, ob es früher oder später von der Ganzheitlichkeitsvision zum diktatorischen Machtspiel entartet.
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