Wittgenstein

Biopic | Großbritannien 1992 | 72 Minuten

Regie: Derek Jarman

Eine komödiantische Einführung in Leben und Werk des österreichischen Philosophen. Ludwig Wittgensteins wesentliche Sätze und Problemstellungen werden allgemeinverständlich in Spielhandlungen gleichsam vorexerziert. Die ausgefeilten Tableaus entwickeln sich zur heiteren, dialogsicheren, hervorragend gespielten Gesamtschau auf das Leben eines philosophischen Außenseiters, mit der Derek Jarman einer "verwandten Seele" ein Denkmal setzt.
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Filmdaten

Originaltitel
WITTGENSTEIN
Produktionsland
Großbritannien
Produktionsjahr
1992
Produktionsfirma
BFI/Uplink/Channel Four
Regie
Derek Jarman
Buch
Derek Jarman · Terry Eagleton · Ken Butler
Kamera
James Welland
Musik
Jan Lathan Koenig
Schnitt
Budge Tremlett
Darsteller
Karl Johnson (Ludwig Wittgenstein) · Clancy Chassay (Ludwig Wittgenstein als Kind) · Michael Gough (Bertrand Russell) · Tilda Swinton (Lady Ottoline Morrell) · John Quentin (Maynard Keynes)
Länge
72 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Genre
Biopic | Komödie
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Diskussion
Es sei seine Aufgabe gewesen, sagt der Co-Autor des Drehbuchs, der Literaturprofessor Terry Eagleton, für ein völlig unwissendes Publikum zu schreiben. Wahrscheinlich deshalb fehlt dieser komödiantischen Einführung in Leben und Werk des österreichischen Philosophen Ludwig Wittgenstein alles, was ihn in irgendeine Tradition setzen könnte. Um so reiner und genialer erscheint dafür sein Denken, dessen wesentliche Sätze und Problemstellungen der Film nicht nur sprachlich zitiert, sondern für jedermann verständlich in Spielhandlungen gleichsam vorexerziert. So lassen Eagleton und Jarman den Philosophen in einen logischen Disput mit einem grünen Marsmenschen treten, während ein Wegweiser im Hintergrund schon in Richtung Cambridge zeigt, oder sie zaubern während einer Auseinandersetzung zwischen Wittgenstein und Russell ein logisch nicht vorhandenes Nashorn von beiden unbemerkt unter einem Tisch hervor, und Wittgensteins berühmten Satz "Die Welt ist alles, was der Fall ist" schreiben sie schließlich auf eine blaue Fahne, die durch die Schützengräben des Ersten Weltkriegs getragen wird. Das soziale Umfeld Wittgensteins beschränken sie auf seine Familie in Wien und die Universität von Cambridge, wo es neben den Studenten-Statisten auf vier Personen zusammenschrumpft: den Kollegen und Förderer, den Philosophen Bertrand ("Bertie") Russell, den Ökonomen und Universitätsverwalter Maynard Keynes, die Geliebte Russells, Lady Ottoline Morell, und schließlich Wittgensteins Student und Liebhaber Johnny.

Besonders im Umfeld dieser "Cambridge Society", die nicht nur in ihren farbigen Kostümen glänzt, sondern vor allem wegen ihres brillanten Gesellschaftsklatsches besticht, erscheint Wittgenstein als genialer Außenseiter. Er verabscheut die Gesellschaftsspiele der Kollegen, trägt als einziger immer ein weißes Hemd und ein graubraunes Jacket, und schon sein hartes, germanisiertes Englisch (dankenswerterweise wurden die Dialoge nur untertitelt) zeigt an, daß diese Welt nicht die seine ist, so sehr er die Kollegen als einzelne auch schätzt. Immer wieder tritt er daher die Flucht an, so wie er schon früher aus Wien geflohen ist, als Freiwilliger in den Ersten Weltkrieg, in dessen Schützengräben er seinen"Tractatus "schrieb, aufs Land an eine Dorfschule, wo er an seinen mangelnden didaktischen Fähigkeiten verzweifelte, und jetzt in die Einöde der norwegischen Küste, nachdem sein Plan, ein einfacher Handarbeiter in Rußland zu werden, gescheitert ist. Wittgenstein-Darsteller Karl Johnson agiert diesem Entwurf des Philosophen als Außenseiter kongenial, und bringt seine denkerische Genialität, sein Versagen als Lehrer und auch seine politischen Spinnereien mit jener gefesselten Energie zum Ausdruck, die sofort in Wut nach außen wie auch in Selbstzerstörung umschlagen kann.

Mit diesem Wittgenstein, der der Welt zugleich abgewandt wie zugetan ist, der sich in ständigem Kampf mit sich selbst befindet, dessen Leben zerrieben wird zwischen dem Streben nach der Reinheit des Logos und den ebenso begehrten Ambivalenzen der Wirklichkeit, hat Regisseur Jarman einer "verwandten Seele" ein Denkmal gesetzt. "Ich habe viel von Ludwig in mir", sagt Jarman, "nicht in meiner Arbeit, aber in meinem Leben. Dem Film gegenüber habe ich dieselben Gefühle wie sie Ludwig gegenüber der Philosophie hatte; es gibt Wichtigeres." Daß aber dieses Wichtigere der warme Körper neben dem eigenen sein könnte, ist nicht ein Gedanke Wittgensteins, sondern eine Einsicht seines Freundes und Kollegen Maynard Keynes, der, homosexuell wie Wittgenstein und Jarman selbst, die Widersprüche im Leben des Philosophen am Totenbett Wittgensteins und am Ende von Jarmans Film in einem Märchen versöhnt. Von Wittgenstein selbst, der 1951 in Cambridge an Krebs starb, sind die Worte überliefert: "Sag ihnen, mein Leben war wunderbar."

Einmal doziert Wittgenstein in Jarmans Film, daß die Bedeutung der Sprache nicht irgendwo hinter den Sätzen versteckt liege, sondern im Gegenteil auf ihrer Oberfläche vollständig präsent sei. Als habe er sich geradewegs an diesem Satz orientiert, hat der britische Regisseur Leben und Werk des Philosophen als heitere Gesellschaftskomödie auf einer imaginären Bühne inszeniert, der er mit einem stets schwarzen Hintergrund selbst noch die Tiefe des Raumes nimmt. Diese Reduktion im Dienste äußerster Klarheit bewerkstelligt Jarmann zudem mit einer Handvoll hervorrragender Theaterschauspieler, mit extravaganten Kostümen, einer punktgenauen Beleuchtung und mit Dialogen, die man im Angelsächsischen so unübersetzbar wie treffend "sophisticated" nennt. Klar, übersichtlich und logisch in ihrer Chronologie addieren sich hier die ausgefeiltesten Tableaus zu einer Gesamtschau auf ein Leben, das nichts Hintergründiges verbirgt, sondern im Gegenteil selbst noch in seinen Verwerfungen ganz vordergründig ausgestellt wird, und das die Hauptfigur als altkluges Kind an mancher Stelle so ironisch kommentiert, als sei es selbst nur ein "Sprachspiel" unter anderen, das Sprachspiel der Biografie, das noch selten so heiter aufgeführt wurde wie hier.
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