Der 1982 geborene Philip Eichholtz bleibt seinem in „Liebe mich!“
(fd 43 279) und „Luca tanzt leise“
(fd 44 436) etablierten Konzept auch in „Rückenwind von vorn“ treu. Die finanziellen Mittel sind bescheiden, die Dialoge improvisiert, viele Darsteller kennt man aus den früheren Filmen, die Handlung kreist um eine Frauenfigur und die möglichst lebensnahe Atmosphäre zählt mehr als effektvolle Kamera-Manierismen. Hin und wieder greift Eichholtz auf der Audioebene auf ein Gespräch in der Vergangenheit zurück oder erzählt in Parallelmontagen. Mit mehr Regie-Einfällen muss man nicht rechnen. Das ist auch nicht nötig, denn das einfühlsame Porträt lebt ohnehin von der Bereitschaft der Schauspieler, ganz im Hier und Jetzt aufzugehen.
Im Mittelpunkt steht die Berliner Grundschullehrerin Charlie, Anfang 30 und mit einer ersten Krise geschlagen. In der Arbeit läuft eigentlich alles glatt, wäre da nicht der phlegmatische Freund, der partout eine Familie gründen möchte, so wie seine Schwester, die ihren noch nicht windelfreien Nachwuchs zur Probe gelegentlich bei dem Paar deponiert. Weil für Charlie dieses Lebensmodell vorerst aber nicht attraktiv genug erscheint, da sie ihre Schullaufbahn gerade erst begonnen hat, nimmt sie heimlich weiter die Pille. Ein stiller Protest angesichts einer Existenz, die scheinbar keinerlei Überraschungen mehr zu bieten hat, zumal ihr Freund nicht mal vom Ausgehen etwas hält und sich lieber griesgrämig vor seinem Smartphone verkriecht.
Ausgerechnet mit ihrem übergewichtigen Kollegen Gerry und ihrer frisch aus dem Krankenhaus entlassenen Oma wagt Charlie dann doch den Ausbruch, wenn auch unfreiwillig. Sie reisen spontan bis nach Tschechien, um dort die besten Klöße zu essen, die es nach Gerrys fachmännischer Meinung dort gibt. Auf der Fahrt hellt sich Charlies Gemüt auf. Je weiter sie sich von ihren ungelösten Problemen entfernt, desto nichtiger erscheinen sie. Vor Ort sieht sich das Trio dann aber mit einem „Geschlossen“-Schild konfrontiert. Kurz wähnt man sich in einem frühen Jarmusch-Filme, dessen Protagonisten ziel- und kraftlos, aber immer nur eine peinliche Stille von dem Herzen der anderen entfernt, durch ihr Leben stolpern, vorausgesetzt, dass gerade ein Auto zur Hand ist, das sie jederzeit an einen anderen Ort bringen kann.
Diese lakonische Weltvergessenheit ist nicht Eichholtz’ Sache. Charlie und Gerry kommen sich zwar beim Ausnahmezustand einer missglückten Reise näher, sprechen sich ihre Last von der Seele und tanzen in der leeren Altstadt um den Marktbrunnen. Ein Happy End ist trotzdem nicht in Sicht. Der Film geht weiter, so wie das Leben seine unerfreulichen Wendungen nimmt. Die Oma erhält eine Krebsdiagnose, zieht es aber zunächst vor, sie ihrer Enkelin zu verschweigen. Und Charlie beendet ihre unbefriedigende Beziehung, ohne bei ihrem Freund auf einen Funken der Entrüstung zu stoßen.
Nach einem zunächst fröhlichen, dann verheulten Klöße-Essen mit Oma und Gerry überkommt Charlie eine Vorahnung, dass mit ihrer Großmutter etwas nicht stimmt. Ein schmerzhafter Abschied steht bevor, den Andreas Dresen nicht realistischer hätte gestalten können. Und eine Neuorientierung, die alle Möglichkeiten offenhält. Erneut bietet eine, diesmal recht kurze Autofahrt den Grund für ein schönes Filmzitat, wenn wie in „Die Reifeprüfung“
(fd 15 718) auf dem Gesicht von Charlie zu erkennen ist, dass der Aufbruch mit Gerry zu einer Reise quer durch Europa keine wirkliche Alternative darstellt. Für Philip Eichholtz gilt das aber keineswegs. Er beweist mit diesem zart-dunklen, hoffnungsvollen dritten Wurf, dass seine Reise durch das Filmuniversum noch lang nicht vorbei ist. Vorausgesetzt, er ist dazu bereit, ähnlich voranzuschreiten wie Jim Jarmusch, der seinen Außenseiter-Kosmos inzwischen bekanntlich sogar mit dem Vampir-Genre zu versöhnen vermag.