Die Vergangenheit, sie bleibt kleben. Man schleppt sie mit sich herum, man schleppt sich mit herum. Da kann einem die Zukunft, und sei es in Gestalt des eigenen Sohnes, schon mal den Atem rauben. Der Pankraz in „Zwei Herren im Anzug“ bekommt solche Erstickungsanfälle in der Nähe seines Nachkommen, er muss dann hinaus an die frische Luft. Der Vater und sein Sohn Semi sitzen in ihrer Familienwirtschaft, gerade sind die letzten Gäste des Leichenschmauses nach Hause gegangen: Pankraz’ Frau Theres ist gestorben, die Mutter von Semi. Pankraz beginnt zu erzählen, er spricht zum ersten Mal mit seinem Sohn, redet an gegen dessen wütende Abwehrhaltung: Er wisse auch nicht warum, und warum jetzt. Sein Roman „Mittelreich“ von 2011 war für Josef Bierbichler gewissermaßen der Baukasten für „Zwei Herren im Anzug“. „Nach Motiven“ des Romans heißt es im Vorspann. Aus seinem ursprünglich auf vier Stunden angelegten Drehbuch wurde ein 140-minütiger Film, bei dem Bierbichler selbst Regie geführt hat und in dem er und sein Sohn Simon Donatz die Hauptrollen spielen. Bierbichler hat ein Gasthaus in Ambach am Starnberger See, den Fischmeister. Seit Generationen ist es im Familienbesitz. Gedreht wurde der Film aber nicht dort, sondern am Chiemsee. Bierbichler geht es vielleicht um so etwas wie das Fiktionale im Autobiografischen: Auch letzteres ist nur ein Baukasten, aus dem man sich bedient. Ausgehend von der Gesprächssituation in der Wirtschaft am See, zu der Bierbichler zwischendurch immer wieder zurückkehrt, wird der Grundkonflikt zwischen Vater und Sohn von dieser filmischen Gegenwart – sie ist im Jahr 1984 angesetzt – in die Vergangenheit getragen. Zunächst 70 Jahre zurück; die Bilder werden schwarzweiß: Der Erste Weltkrieg erreicht auch das kleine Dorf am See. Pankraz ist ein Knirps von sechs Jahren, der seinen autoritären Vater, den Dorfbürgermeister, durch den Türspalt beobachtet. Mit monumentaler Wucht blättert der Autor, Regisseur und Schauspieler ein Familienepos auf, ein Zeitengemälde, tief in Bayern verortet und zugleich universell. Nazivergangenheit, Bigotterie, Generationenbruch, Missbrauch wirken in den Menschen fort. Drei Generationen der Seewirtsfamilie in unterschiedlichen Lebensaltern stellen Bierbichler und Donatz dar – Großvater, junger Vater, Vater und Sohn. Für den Zuschauer gelingt der Transfer gut. Bierbichler erzählt seine Geschichte nicht im klassischen Sinne narrativ, folgt eher den Strukturen des Unterbewussten, des Traums, der Erinnerung: Und ist Erinnerung nicht immer auch Fiktion? Die titelgebenden zwei Herren im Anzug tauchen gelegentlich surreal achternbuschhaft auf, sitzen plötzlich am Tisch, im Biergarten am See und beobachten, wie Geschichten sich zu Geschichte verdichten, wie aus Heimatliebe Hassliebe wird – und umgekehrt. Nicht nur an diesen Stellen tritt der Film immer wieder aus sich selbst heraus und bricht leidenschaftlich mit so einigen Regeln der Kunst. Die Kamera von Tom Fährmann und die Montage von Karina Ressler folgen dieser anekdotisch-psychologischen Logik: Gelegentlich wird assoziativ, etwa Bewegungen folgend verknüpft; Fährmann setzt Türen fast schon wie Ernst Lubitsch ein und öffnet mit ihnen immer neue (Gedanken-) Spielräume: Mit dem Ende einer denkwürdigen ausufernden Faschingsveranstaltung in der Wirtschaft entledigen sich ein paar Gäste vollständig ihrer Masken und Verkleidungen und ziehen, im Hintergrund des eigentlichen Geschehens, nackt im Türrahmen vorüber. Das Groteske hat Platz ebenso wie lakonisch-absurder Humor Gerhard Polt’scher Prägung. Polt hat einen kleinen Gastauftritt und darf gemeinsam mit den Bewohnern des Hauses am See den neuen Traktor bestaunen, der die Wirtschaftswunderzeit auf dem Hof in lackgrüner und ziegelroter Pracht begrüßt. Hier hat Semi bereits die Erzählung im Vater-und-Sohn-Showdown nach dem Leichenschmaus an sich gerissen, und „Zwei Herren im Anzug“ ist von Schwarz-weiß zu Farbe gewechselt. Pankraz verflucht das Land, den Hof und die Gastwirtschaft, sein Erbe, das ihn gleichzeitig entbindet und bindet. Jetzt, wo mit dem Erbe der „Unabkömmlichkeitszwang“ greift, könne man endlich getrost alle Hoffnung auf ein anderes, glücklicheres Leben loslassen: Zum Beispiel auf ein solches als Opernsänger. In einem wüsten Sturm aus Wagner-Oper und Hölderlin steht Pankraz viel später nachts am aufgewühlten See und brüllt gegen sein Schicksal an. Bierbichler setzt auf ein anti-manipulatives Kino, das gerade deshalb, mit seinen oft derben, unmittelbaren Bildern, den Stilbrüchen, dem analytisch-selbstreflexiven Umgang mit Stimmungen, Geschichte, Gefühlen, Traumata zu überwältigen vermag. „Zwei Herren im Anzug“ ist so etwas wie eine Symphonie für Pauke und zehn Schlagwerke (gleichwohl zur schönen, zurückhaltenden, bayerisch-subversiven Musik von „Kofelgschroa“). Das einzige, was man „Zwei Herren im Anzug“ vielleicht vorwerfen könnte, ist: Er ist zu kurz, hätte eine Serie werden können wie Edgar Reitz’ „Heimat“ etwa – was wohl auch mal eine Option war. So überwältigt der Film auch durch seine Überfülle – aber dann muss man ihn eben noch einmal sehen. Eigentlich macht es Sinn, dass „Zwei Herren im Anzug“ weder auf der „Berlinale“ lief noch beim Bayerischen Filmpreis berücksichtigt wurde. Da könnte sich am Ende ja noch jemand erschrecken, bei so viel Wahrhaftigkeit.