Schlammbraune und giftgrüne Nebelschwaden steigen von dem Schlachtfeld des Ersten Weltkriegs auf. Die tödliche Luft, die über den großen Verwüstungen auf dem europäischen Festland liegt, verschont in der BBC-Adaption von Agatha Christies „Zeugin der Anklage“ scheinbar auch London nicht. Eine Stimmung wie im amerikanischen Film noir prägt hier die britische Hauptstadt zu Beginn der 1920er-Jahre. Nicht nur auf den Straßen ist der Dunst mitunter so mächtig, dass kaum ans Durchkommen zu denken ist, auch innerhalb der Gebäude hängt er erbarmungslos über den vom Krieg gebeutelten Menschen. Die einen sind fürs Leben gezeichnet zurückgekehrt, während sich die, die es sich leisten können, nach Vergnügen und Zerstreuung suchen. Für den ehemaligen Soldaten Leonard Vole ist die Begegnung mit einer reichen älteren Dame der erste Hoffnungsstrahl nach den Enttäuschungen der Heimkehr, weshalb er die Beziehung trotz Alters- und Standesunterschied vorantreibt. Doch dann liegt seine Gönnerin eines Abends erschlagen in ihrem Haus und Leonard wird wegen Mordes verhaftet. Auf Verständnis oder Gnade kann der vermeintliche Mitgiftjäger nicht rechnen und seine Aussichten wirken anfangs nur bedingt besser, als er in dem wenig erfolgreichen Anwalt John Mayhew (Toby Jones) einen Rechtsbeistand findet. Mayhew ist ebenfalls versehrt aus dem Krieg zurückgekommen. Durch Folgen eines Giftgasangriffs wird er von chronischen Hustenanfällen geplagt, sein Sohn ist im Kampf gefallen, seine Ehe zum stummen Nebeneinander-Hinleben verkommen; es schwingt deshalb auch väterliches Schutzgefühl für den jungen Mann mit, den er vor dem Galgen bewahren will. Regisseur Julian Jarrold („A Royal Night – Ein königliches Vergnügen“) und Drehbuchautorin Sarah Phelps setzen mit der eindeutigen zeitlichen Verankerung des Geschehens auf einen Aspekt, der in der Masse der Agatha-Christie-Verfilmungen bislang erstaunlich kurzgekommen ist. Ihre Adaption ist ebenso sehr Krimi wie Zeitporträt, das Verhalten aller Figuren untrennbar mit den Gegebenheiten der 1920er-Jahre und des exakt gezeichneten Milieus verbunden. Was keineswegs heißt, dass Jarrold und Phelps die Vorlage entstellt hätten. Im Gegenteil: Der Inhalt der 1925 entstandenen Kurzgeschichte findet sich bei ihnen fast vollständig wieder, während sie spätere Bearbeitungen, insbesondere die erfolgreiche Theaterfassung aus den 1950er-Jahren und Billy Wilders berühmte Kino-Verfilmung von 1957, ignoriert haben. Deutlich wird der grundlegend andere Ansatz vor allem an der männlichen Hauptfigur: Während die Exzentrik des pompösen Kronanwalts Wilfrid Robarts vor allem bei Wilder die Krimi-Aufklärung an die Seite zu drängen drohte, ist der Arme-Leute-Anwalt John Mayhew ein von allen herumgestoßener „kleiner Mann“, dem Toby Jones eine vollendet bemitleidenswerte Gestalt verleiht. Der verhärmte Kleinbürger klammert sich an den Ehrgeiz, seinen Mandanten frei zu bekommen, um damit sich und der Welt seinen Wert zu beweisen, was sich noch steigert, als Mayhew Leonards Frau Germaine kennen lernt. Die Varieté-Künstlerin bezaubert ihn von der Bühne aus, wirkt außerhalb des Rampenlichts bescheiden und ehrbar – scheinbar eine ideale Entlastungszeugin. Doch dem Verlauf der Geschichte gemäß kommt es anders: Germaine – von Andrea Riseborough grandios undurchschaubar gespielt – wendet sich vor Gericht gegen ihren Mann, und zwingt den überrumpelten Mayhew, seinen gesamten Eifer noch einmal zu mobilisieren. Den Anleihen beim Film noir entspricht auch, dass selbst die Gewissheit der Auflösung diese Version von „Zeugin der Anklage“ nie ganz von ihrer melancholischen Stimmung befreien kann. Bei allen spannenden Wendungen ist dieser Film damit kein konventioneller Whodunit zum entspannten Miträtseln; dafür aber bietet er eine der interessantesten Adaptionen einer Autorin, deren Potenzial für abgründige Charakter- und Sittenbilder innerhalb ihrer cleveren Krimi-Plots durchaus noch zu entdecken ist.