Tanzfilme erzählen oft ganz ähnliche Geschichten: von jungen Leuten, die es bis ganz nach oben schaffen wollen, sich auf einen Wettkampf vorbereiten oder sich einfach verlieben und für die das Tanzen zum Ausdruck dieser Liebe wird. Auch „Polina“ ist ein Tanzfilm und greift manches davon auf. Aber irgendwie ist er auch ganz anders. Das liegt wahrscheinlich daran, dass er auf einer Graphic Novel von Bastien Vivès beruht – und der junge französische Comic-Zeichner sich mehr für Stimmungen und genaue Beobachtungen interessiert als für konventionelle Geschichten.
Bastien Vivès ist ein Star unter den französischen Comic-Zeichnern und -Autoren. Mit seinen reduzierten Zeichnungen, die Gesichter oft nur in Andeutungen zeigen, der fließend-offenen Linienführung und dem Verzicht auf mehr als nur angedeutete Hintergründe werden seine weiß-schwarz-beigen Zeichnungen geradezu abstrakt. Andererseits hat Vivès einen ausgesprochen filmischen Blick: Die Bildfolgen erinnern an Filmszenen. Seitenlang konzentriert er sich auf Panels, die stumm Beobachtungen, Blicke und Posen zeigen, und erzählt allein durch die Bildgestaltung. Während seine Graphic Novels sich dadurch einerseits für Filmadaptionen empfehlen, macht die Abstraktion dies andererseits schwer.
Nun haben Valérie Müller und Angelin Preljocaj Vivès’ „Polina“ verfilmt, die Geschichte einer russischen Balletttänzerin, die sich um die Aufnahme am Bolschoi-Theater bemüht und von ihrem strengen und unnahbaren Ausbilder Bojinski die erste wichtige Lektion in ihrem Künstlerleben lernt: Tanzen ist nicht Gefühl, sondern Begabung, nicht Improvisation, sondern Technik. Tatsächlich besteht Polina zehn Jahre später die Aufnahmeprüfung. Dann aber läuft sie auch schon davon: Mit ihrem Freund Adrien macht sie sich auf den Weg nach Frankreich, in ein modernes Tanztheater, in dem sie ganz andere Regeln lernt. Nur wer Gefühle zeigt, wirkt beim Tanzen glaubhaft, sagt man ihr dort. Polina passt sich an. Und bricht wenig später dann doch wieder auf, nachdem sie ausgerechnet auf der Bühne durch die Kunst erkennt, was zwischen ihr und Adrien nicht stimmt.
„Polina“ wird episodisch und elliptisch erzählt und überrascht gerade dadurch, dass er viele Standard-Szenen des Tanzfilms einfach ausblendet. Man sieht weder die Aufnahmeprüfung noch den Beginn oder das Ende der Liebesbeziehung zwischen Polina und Adrien. Das im Comic vorherrschende Verhältnis zwischen Polina und ihrem Mentor Bojinski vernachlässigt der Film zugunsten von Polinas Streben nach Unabhängigkeit und Selbstverwirklichung. Manchmal wirkt das ein wenig analytisch. Während die Bilder der Graphic Novel, in der die Figuren nicht selten sogar ohne Augen gezeichnet werden, dem Publikum noch mehr Raum lassen, um die Gefühle von Polina zu deuten, leidet der Film in dieser Hinsicht an zu konkreten Bildern und wirkt bisweilen auch aufgrund der gedämpften Farbpalette ein wenig leer und kühl.
Seine große Stärke spielt er wiederum in den von Co-Regisseur Angelin Preljocaj choreografierten Tanzszenen aus, die über die statischen Panels des Comics hinausweisen. Nicht die Kameraarbeit zieht die Aufmerksamkeit auf sich, dies leisten die Bewegungen im Blickfeld der Kamera. Die klassische Musik weicht zunehmend den reduzierten Klängen eines modernen Tanztheaters, die schließlich eine treibende Kraft entfalten. Am Ende steht der Film der grafischen Vorlage mindestens ebenso nahe wie Wim Wenders’ „Pina“.