Drama | Frankreich/Griechenland 2016 | 102 Minuten

Regie: Delphine Coulin

Zwei französische Soldatinnen, die seit Schultagen miteinander befreundet sind, haben in Afghanistan gedient. Nun werden sie am Ende ihrer Dienstzeit zusammen mit ihren Kameraden zur „Dekompression“ in einen Hotel auf Zypern geschickt: Während des Aufenthalts sollen sie durch diverse Aktivitäten und Gesprächsrunden ihre Kriegserlebnisse verarbeiten. Daraus entsteht ein nachdenkliches, vielschichtiges Drama, das einerseits den Schwierigkeiten nachspürt, die die Protagonistinnen als Frauen in der Männerdomäne Militär bewältigen müssen, das andererseits aber auch Fragen nach dem Sinn des Kriegseinsatzes und der Situation in Europa stellt. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
VOIR DU PAYS
Produktionsland
Frankreich/Griechenland
Produktionsjahr
2016
Produktionsfirma
Archipel 35/Blonde Audiovisual Prod./Arte France Cinéma
Regie
Delphine Coulin · Muriel Coulin
Buch
Delphine Coulin · Muriel Coulin
Kamera
Jean-Louis Vialard
Schnitt
Laurence Briaud
Darsteller
Soko (Marine) · Ariane Labed (Aurore) · Ginger Romàn (Fanny) · Karim Leklou (Max) · Andreas Konstantinou (Chrystos)
Länge
102 Minuten
Kinostart
09.11.2017
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama
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Zwei Soldatinnen und ein nie endender Krieg in Afghanistan

Diskussion
Der Krieg im Afghanistan hat auch im Kino eine lange Geschichte. Zuletzt spürten beispielsweise Feo Aladag in „Zwischen Welten“ (2014 (fd 42 271)) und Tobias Lindholm in „A War“ (2015 (fd 43 816)) den psychischen Belastungen nach, denen Soldaten in der Extremsituation Krieg ausgesetzt sind. „Wie kann man überhaupt sein Leben bewältigen, wenn man solche Gewalt erlebt hat?“, fragten sich auch Delphine und Muriel Coulin und wählten dabei eine ungewohnte Perspektive, indem sie in ihrem Drama zwei Soldatinnen in den Mittelpunkt stellen. Aurore und Marine, seit Schultagen miteinander befreundet, haben in Afghanistan „ihren Mann gestanden“, haben gezeigt, dass auch sie „Eier haben“. Doch nun werden sie plötzlich von einigen Kameraden angefeindet, erst unterschwellig, dann immer direkter. Die Schwestern Coulin erzählen in ihrem zweiten Spielfilm auch, aber nicht nur von den Schwierigkeiten, sich als Frau in einem männlich geprägten System zu bewähren. Ganz selbstverständlich führen sie Marine und Aurore als Soldatinnen ein; diese haben sich für die Armee entschieden, weil sie Geld verdienen und die Welt sehen wollten, aber auch um Frankreich und Europa zu verteidigen. Ein Anliegen, das sie schließlich nach Afghanistan führte, wo sie nicht die Welt gesehen, stattdessen aber Schreckliches erlebt haben: sterbende Kameraden, abgerissene Gliedmaße, Hilflosigkeit und die nackte Angst ums Überleben. All diese „schlechten Erinnerungen“ sollen sie nun nach Ende ihres Einsatzes in einem Luxushotel auf Zypern vergessen. „Dekompression“ wird das genannt. Mithilfe von „Sport, Entspannung und gemeinsamer Nachbesprechung“, so die Idee, wird wie bei einem Tauchgang langsam der Druck von den Soldaten und Soldatinnen genommen. Sie haben drei Tage Zeit, um sechs Monate zu verarbeiten, damit die inneren Bilder verschwinden und sie „unbesorgt“ zurück in die Realität finden. Doch was für eine Wirklichkeit ist das? Wie Fremdkörper wirken die Uniformierten zwischen den anderen Hotelgästen, die baden, tanzen, trinken und flirten und keine Sekunde lang an Afghanistan denken. Im Film findet der Krieg nur noch in den Köpfen der Soldaten und Soldatinnen statt. Er klingt nach in der gereizten Beherrschtheit der jungen Männer und Frauen, in ihren leeren Blicken auf das weite Blau des Meeres, zeigt sich in zappeligen Händen und Füßen, in plötzlicher Aggression. Und er wird schließlich visuell sichtbar, wenn die Truppenmitglieder vor versammelter Mannschaft auf Geheiß der Psychologen von Kriegserlebnissen erzählen müssen, die mit Hilfe einer Virtual-Reality-Videotechnologie in Echtzeit bebildert und auf eine Leinwand geworfen werden. Das nochmalige Erleben und Darüber-Reden entlastet manche, andere verweigern sich, und schließlich kommen unbequeme Wahrheiten und Konflikte zu Tage, die Aurore an der Loyalität ihrer Freundin zweifeln lassen. Wie schon in ihrem Debüt „17 Mädchen“ (fd 41 104) über eine kollektiv schwanger werdende Gruppe von Teenagern beweisen Delphine und Muriel Coulin ihren genauen Blick für die kleinen Regungen ihrer Figuren, für das Unausgesprochene. Wenngleich in einem ganz anderen Zusammenhang geht es auch in „Die Welt sehen“ um den Körper. Die Soldaten und Soldatinnen stählen sich an Geräten und Handeln, reagieren sich beim Training oder bei Rangeleien ab. Man denkt an „Beau Travail“ (fd 34 209) von Claire Denis, in dem sich die Fremdenlegionäre fast wie Tänzer bewegen, doch der Körper oder vielmehr dessen Verwundbarkeit ist die Schwachstelle der Männer und Frauen. Die erlittenen Blessuren, die körperlichen Schmerzen, das Sterben und Leid der Anderen haben unsichtbare Narben hinterlassen, über die kaum einer reden will. So prallen auf Zypern, halb griechisch, halb türkisch, alle zusammen: die Soldaten und Soldatinnen, die Urlauber, die Einheimischen und am Ende auch Flüchtlinge aus dem Nahen Osten und Nordafrika. In den Fernsehnachrichten erfahren Aurore und Marine von der griechischen Wirtschaftskrise, den Sorgen um die Demokratie und den europäischen Zusammenhalt. War es das, wofür sie im Krieg ihr Leben riskierten? Im Bus stimmen die Männer „Adieu vieille Europe“ an, ein Lied der Fremdenlegion. „Was dort geschehen ist, bleibt dort. Was hier gesagt wurde, bleibt hier“, hat der Offizier zum Abschied gesagt. Der Krieg in Afghanistan wird für Aurore, Marine und ihre Kameraden wahrscheinlich nie zu Ende gehen.
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