Der Titel legt es zwar nah, aber zunächst will einem „Es war einmal Indianerland“ wirklich nicht als ein Märchen erscheinen – und wenn, dann als das von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen. Erst auf den zweiten Blick offenbaren sich dann die Muster, die diese fulminante Verfilmung eines nicht minder fulminanten Jugendromans zum ebenso mitreißenden wie wundersamen modernen Märchen machen. Fernab von Magiern, Riesen und anderen Fabelwesen gibt es genügend fantastische Begebenheiten, die dem 17-jährigen Protagonisten Mauser die Grenzen zwischen seiner angespannten inneren Befindlichkeit und der tristen äußeren Wirklichkeit regelrecht wegsprengen, sodass er fragt: „Wer sagt mir, dass das alles kein Traum ist?“
Auch wenn dieser Mauser heftig an seiner Lebenssituation leidet, besitzt seine „Passionsgeschichte“ genügend Elemente eines sozialrealistischen, ja sozialutopischen Märchens, das viel über gesellschaftliche Gegebenheiten erzählt, über Herrschaft und Macht, prekäre Lebensverhältnisse, zerstörte Familien, fatale Ersatzbeziehungen, aber auch über die Sehnsucht nach Zuneigung, Geborgenheit und Liebe. Und über die beharrliche Hoffnung auf die heilende Kraft der Veränderung.
Vorlage von Nils Mohl
Mit ungestümer Fabulierlust hebt der Film jedes konventionelle Erzählen aus den Angeln, jongliert bis zur zeitweiligen Orientierungslosigkeit mit Raum und Zeit, um beides aus der panischen Sicht seines tief beunruhigten Protagonisten aufzulösen und wieder zu ordnen. So könne es sein, erkennt Mauser, man löse sich in seine Moleküle auf, um am Ende neu zusammengesetzt zu werden, „absolut identisch und doch ganz anders“.
Regisseur Ilker Çatak folgt souverän der Erzählstruktur der Vorlage von Nils Mohl. Auch der Roman, erster Teil der Hamburger Stadtrand-Trilogie „Liebe – Glaube – Hoffnung“, nimmt die existenzielle Fabel des 17-jährigen Helden genauso wichtig wie die Erzählweise. Die zwei Wochen vor einem für Mauser wichtigen Ausscheidungskampf im Boxen geraten rückblickend in einen wilden Bewusstseinsstrom, und wenn Mauser die Fetzen seiner Erinnerungen rekapituliert, spult er – und mit ihm der Film – mal vor, mal zurück wie auf einem altmodischen Kassettenrecorder, beschleunigt, rafft, überspringt vermeintlich Unwichtiges, um es später dann als existenziell hervorzukramen.
Man sollte dieser drängenden Erzählweise mit offenen Augen und Ohren folgen und sie sich eigenständig, quasi detektivisch erschließen, denn jede linear geordnete Vorabzusammenfassung erfasst nur ansatzweise die Vitalität und Kraft der Fabel. Im Kern geht es um die heftige, immer wieder zu Hysterie, Panik und Schizophrenie neigende Zerrissenheit des jungen Mauser, der seinem sozialen Umfeld aus Verwahrlosung und Kleinkriminalität entflieht, indem er verzweifelt, aber mutig sein Leben in die Hände nimmt, sich selbst, aber auch andere verstörend und verletzend. Ein „Krieger“, der von einer Boxer-Karriere ebenso träumt wie von der großen Liebe: von Jackie, der Traumfrau, einer in Wahrheit eitlen und oberflächlichen Diva aus dem Milieu der Reichen und Schönen, während Mauser verkennt, dass die bodenständige Edda aus der Videothek an der Ecke eigentlich genau die Richtige für ihn wäre.
Mitreißend und vital
Doch lange Zeit kämpft er mit seinen Dämonen, driftet von einer illegalen Strandbad-Party zu schmerzhaften Kämpfen, sieht überall und immer wieder einen imaginären Indianer, den er erst in letzter Minute loslässt. Da hat er auf einem drogengetränkten Rave-Event, einem „Powwow“ irgendwo an der Grenze, fast schon alles verloren, nicht zuletzt seinen Vater, der wegen des Mords an Mausers Stiefmutter gesucht wird. Das alles gerät in einen Mahlstrom der Empfindungen, löst sich auf in rhythmischen Bildfetzen und pulsierenden Musikklängen, gönnt sich gleichwohl aber auch unvermutete Atempausen aus Stille und tiefer Ruhe.
Alles das ist mitreißend und vital, existenziell intensiv, ebenso spielerisch wie verbindlich, mal skurril oder surreal, gespielt von großartigen jungen Darstellern, deren Figuren extrem nahe kommen, gerade weil sie nicht bis ins letzte Detail auserklärt werden. Selbst im beiläufigsten Slapstick, etwa wenn ein großspuriger Junge im Bildhintergrund von einem Parkdeck stürzt, oder in einem vermeintlichen Kalauer bleibt der Film respektvoll bei der „egoistischen“ Binnensicht seiner Figuren. Was der gleich zweimal auftauchende Bjarne Mädel durchaus tiefgründig in einem Witz zusammenfasst, in dem ein alter Fisch zwei junge Fische begrüßt und sie fragt, wie denn heute das Wasser sei; woraufhin der eine junge Fisch den anderen fragt: „Was ist das eigentlich, Wasser?“