Gute Manieren

Drama | Brasilien/Frankreich 2017 | 136 Minuten

Regie: Juliana Rojas

Für eine schwarze Hausangestellte entpuppt sich eine neue Arbeitsstelle bei einer schwangeren weißen Frau als zweifache Grenzüberschreitung. Zwischen ihr und ihrer Arbeitgeberin entwickelt sich eine Liebesgeschichte. Und das in ihrem Bauch heranwachsende Baby entpuppt sich als Mischwesen aus halb Mensch, halb Bestie. Mit hypnotischen Lichtstimmungen und schwirrenden Chor- und Harfenklängen verbindet die lesbische Liebesgeschichte folkloristische Traditionen aus Brasilien und Elemente aus populären US-amerikanischen Horrorfilmen zur provokanten Kritik an Klassenverhältnissen und Rassismus. - Ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
AS BOAS MANEIRAS
Produktionsland
Brasilien/Frankreich
Produktionsjahr
2017
Produktionsfirma
Dezenove Som e Imagens/Good Fortune Films/Urban Factory
Regie
Juliana Rojas · Marco Dutra
Buch
Juliana Rojas · Marco Dutra
Kamera
Rui Poças
Musik
Juliana Rojas · Marco Dutra · Guilherme Garbato · Gustavo Garbato
Schnitt
Caetano Gotardo
Darsteller
Isabél Zuaa (Clara) · Marjorie Estiano (Ana) · Miguel Lobo (Joel) · Cida Moreira (Amélia) · Andrea Marquee (Ángela)
Länge
136 Minuten
Kinostart
26.07.2018
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama | Fantasy
Externe Links
IMDb | TMDB | JustWatch

Heimkino

Verleih DVD
Salzgeber (16:9, 1.78:1, DD5.1 port.)
DVD kaufen

Filmisches Mischwesen aus Sozialkritik und Märchen, Horror und Musical, das mit hypnotischen Lichtstimmungen und schwirrenden Chor- und Harfenklängen provokante Kritik an Klassenverhältnissen und Rassismus übt.

Diskussion
Am Ende werden Ana ihre guten Manieren nichts nützen. Aufrecht gehen, eine Suppe ohne Schlürfen essen: alles nutzlose Fähigkeiten angesichts des bestialischen, unzähmbaren Lebens, das in ihrem schwangeren Bauch heranwächst. Die Weichen für einen Horrorfilm werden in „Gute Manieren“ bereits in der Titelsequenz gestellt. Ein florales, tiefblaues Tapetenmuster verwandelt sich zu schwirrenden Chorklängen allmählich in eine unkonturierte graue Fläche, in der man sich wie in einem dichten Nebel verlieren kann. Doch zunächst geht es um klare, sehr sichtbare Differenzen. Sie haben mit Klasse und Hautfarbe zu tun. Clara gehört zu den vielen schwarzen Frauen in Brasilien, die als Hausangestellte in einem weißen Haushalt tätig ist und als ständig verfügbare Arbeitskraft auch dort lebt. Ihre Arbeitgeberin ist Ana, eine junge schwangere Frau, die von ihrer patriarchalen Familie verstoßen wurde und in einem Apartment in São Paulo lebt, dessen Inneneinrichtung einer eher vulgären Vorstellung von „Modernität“ entspricht; die augenfälligste Scheußlichkeit ist ein elektrischer Kamin, der per Fernbedienung romantische Stimmung erzeugen soll. Bis das Baby auf die Welt kommt, übernimmt Clara, die über spirituelles und medizinisches Wissen verfügt, die Rolle einer Haushälterin, Köchin, Handwerkerin und Gesellschafterin. Dabei erledigt sie alle Aufgaben stets mit unerschütterlichem Stolz, selbst wenn sie für Ana Einkaufstaschen durch die Shoppingmall trägt oder ihre achtlos fallengelassenen Dinge vom Boden aufhebt. Die Regisseure Juliana Rojas und Marco Dutra führen die Machtasymmetrie zwischen weißer Herrin und schwarzer Hausangestellter, die im lateinamerikanischen Kino eine feste Größe ist, bald aber auf ein ganz anderes Terrain. Zum einen entwickelt sich zwischen den beiden Frauen eine unerwartete Liebesgeschichte, in der sich die gesellschaftlich zugeschriebenen Rollen zwar nicht gänzlich auflösen, aber doch nivellieren. Zum anderen entwickelt Ana in Vollmondnächten eine immer stärkere Form des Somnambulismus, der von einer buchstäblichen Fleischeslust getrieben ist. Die Schwangerschaft ist in „Gute Manieren“ ein übermächtiger, monströser Zustand – und sie endet tödlich. Die Inszenierung bedient sich dabei bei folkloristischen Traditionen Brasiliens und ihrer Verarbeitung in US-amerikanischen Horrorfilmen wie „Rosemarys Baby“ (fd 15 794) und, sobald sich das Joel genannte „Baby“ den Weg durch Anas Bauchdecke freisprengt, dem Horror-Subgenre des Werwolf-Films. Mit seinen hypnotischen Lichtstimmungen, dem Vorrang innerer Konflikte vor Schockeffekten und der Auflösung von Grenzen zwischen Mensch und Tier, Recht und Verbrechen, steht der Film aber eher den B-Horrorfilmen von Jacques Tourneur nahe: Arbeiten wie „Katzenmenschen“ (fd 34 192) oder „Ich folgte einem Zombie“ (fd 34 194). Nach einem eher intimen, kammerspielartigen Figurendrama kreist der Film im zweiten Teil um Mutterschaft, Herkunft und Außenseitertum. Clara hat mit Joel eine eigene Familie begründet, die sie mit ausgearbeiteten Methoden zu hüten weiß. Alle vier Wochen muss der kleine Junge für vier Nächte ins „Kämmerlein“, und am nächsten Morgen erfolgt die fast schon rituelle Rasur. Joel, der sich ausschließlich von magerem Gemüse und Brot ernährt, ist ein zartes Kind, das unter dem sozialen Ausschluss leidet, den seine streng gehütete „Wesenheit“ mit sich bringt. Schließlich ist es der Wunsch nach Teilhabe, der zur Entfesselung seiner Triebe führt. Wie seine kindliche Werwolf-Figur ist auch der Film ein Mischwesen: Rojas und Dutra verbinden Sozialkritik und Märchen, Horror und Musical, das Artifizielle und das Klare, etwas Wirklichkeitsentrückte und das Welthaltige. Und nicht zuletzt steht eine die Grenzen von Hautfarbe und Klasse überschreitende lesbische Liebesgeschichte neben der Mutter-Kind-Geschichte, in der Liebe und Beschützerinstinkt mehr wiegen als gesellschaftliche Vereinbarungen. „Du sollst nicht hungrig bleiben“, heißt es in einem wiederkehrenden Schlaflied – ein fürsorgliches Versprechen mit einem sehr gruseligen Klang.
Kommentar verfassen

Kommentieren