Amelie nervt die wöchentliche Pendelei zwischen ihren getrennt lebenden Eltern. Es erfüllt sie Unmut, dass ihre Mutter ihr Zimmer als Abstellraum benützt, wenn sie bei ihrem Vater ist, und auch, dass ihre Eltern sich trotzdem so gut verstehen. Vor allem aber nervt sie ihre lästige Krankheit, die ihr immer wieder einen Strich durch die Rechnung macht und wortwörtlich die Luft zum Atmen nimmt. Nach einem besonders heftigen Asthma-Anfall, der sie fast das Leben kostet, soll sie nun drei Monate lang eine Therapie in einer Spezialklinik in Südtirol über sich ergehen lassen.
Für die 13-jährige Rebellin aus Berlin ist die ländliche Idylle ein Kulturschock. Berge, wohin man auch sieht. Dass der sommersprossige, zwei Jahre ältere Bart die Kühe auf dem benachbarten Bauernhof mittels Computersteuerung melken lässt und sich als Herdenmanager bezeichnet, wirkt da ziemlich seltsam. So seltsam wie Bart selbst, dessen Dialekt Amelie kaum versteht und dem sie bei der ersten Begegnung allerlei Schimpfworte an den Kopf wirft.
Doch ausgerechnet auf Bart ist Amelie wenig später angewiesen. Als sie aus der Klinik abhaut, weil sie sich dort nicht ernst genommen fühlt, begegnet sie dem Bauernjungen, der ihr von einem regionalen Ritual erzählt. Ein Sprung durch das Gipfelfeuer soll Krankheiten heilen. Obwohl Amelie nicht abergläubisch ist, hat sie fortan ein neues Ziel. Sie möchte unbedingt zum Gipfel. Dass sie in den Bergen alleine aber hoffnungslos aufgeschmissen ist, wird schon beim Versuch, einen Fluss zu überqueren, deutlich. Und so beschließt Bart, sie zu begleiten.
Die ersten Szenen in Berlin und in der Klinik reihen Klischee an Klischee. Da gibt es den unausweichlichen Dudel-Pop im Hintergrund, unnötige Bildbeschleunigungen, wenn Autos auch nur an den Straßenrand fahren, überzogene Nebenfiguren, die nur auf Lacher ausgelegt sind, und ein ziemlich komisches Geisterbeschwörungsritual, das lediglich als dramaturgischer Auslöser für einen Asthmaanfall dient. Doch dann ändert sich alles. Wenn sich Amelie mit Bart auf den Weg zum Gipfel macht, dann lässt der Film alle Klischees zurück und schafft etwas, was in deutschen Kinder- und Jugendfilmen eher unüblich ist. Er verlässt die Städte und die engen Räume, die Wohnungen und die Schulen, die Familien- und die Freundschaftsgeschichten und wagt sich hinaus in die Welt und in die Weite, wo es außer den beiden Protagonisten nichts anderes mehr gibt.
In den Bergen entfaltet „Amelie rennt“ seine ganze Stärke. Zwei Jugendliche und ein Berg, den es zu bezwingen gilt. Die raue Natur der Dolomiten dient als wunderbares Symbol für die Schwierigkeiten, die Amelie zu überwinden hat; sie ist der heimliche dritte Darsteller. Zugleich sind die beiden Jugendlichen hier völlig auf sich allein gestellt. Es geht darum, wie sie miteinander interagieren, wie sie sich ansehen, wie sie sich streiten und ineinander verlieben, aber nicht küssen.
Amelies Sturheit und Ärger über ihre Erkrankung, die wie ein Stigma an ihr haftet, für das sie sich schämt, und das sie einfach nicht loswerden kann, wird dabei immer deutlicher. Sie kann und will sich nicht so akzeptieren, wie sie ist. Um jeden Preis will sie ihre chronische Atemnot vor Bart verbergen, weil sie keine Schwäche zeigen will. Wenn sie endlich die Möglichkeit hat, ein paar Wünsche in die Welt hinauszuschreien, dann flucht sie erst einmal und schreit sich den ganzen Frust von der Seele. Genau diese Widerspenstigkeit und Impulsivität macht diese Figur aus.
„Amelie rennt“ tut gut daran, nicht allzu sehr auf den Gegensatz von Großstadtmädchen und Naturburschen zu setzen, noch den Weg der beiden durch allerlei Hindernisse zu erschweren. Die Konflikte finden nicht im Äußeren statt, sondern im Inneren. Die Gefahr durch das aufziehende Gewitter ist nicht entscheidend, sondern wie Amelie sich diesem trotzig stellen will – und wie Bart mit diesem Trotz umgeht. Auch die Parallelmontage mit den zunehmend verzweifelt suchenden Eltern läuft nie auf eine dramatische Rettungsaktion hinaus. Amelie und Bart werden nicht verfolgt. Sie müssen niemandem ausweichen, außer sich selbst. Auf dem Weg ins Erwachsenenleben ist das Herausforderung genug.