Langsam schälen sich die Staubkörnchen aus dem Dunkel heraus. Das Licht der Disko bricht sich in ihnen, bevor sie sich in kleine Zellen verwandeln, die frei in der Blutbahn schweben, bis sich noch kleinere schwarze Teilchen an ihnen andocken und rasend schnell alles Lebendige verschlingen. Gerade wollten die Tanzenden die Erlebnisse ihrer jüngsten Protestaktion abschütteln, da wird der von ihnen aufgewirbelte Staub zur Makroaufnahme ihres Inneren: Im Takt der 120 Beats pro Minute, ob des Herzens oder des Techno, genießen sie ihre Jungend und wissen doch, dass das Ende nur darauf wartet, auch sie zu verschlingen. „Danser = Vivre“, steht auf ihren T-Shirts, als sie sich später beim Christopher Street Day formieren, um dort anzugreifen, wo ihr Feind, der Virus, am brutalsten grassiert.
Es ist tatsächlich ein Tanz auf dem Vulkan, den Sean, Thibault, Sophie und Nathan Anfang der 1990er-Jahre unternehmen. Sie alle sind Teil von „Act up“, dem Pariser Ableger der in Amerika gegründeten Protestbewegung, die sich gegen das Unvermögen von Politik und Pharmakonzernen im Kampf gegen AIDS richtet: gegen elendig lange Versuchsstadien, die künstliche Verknappung der Wirkstoffe, zu wenig Prävention, dafür aber umso mehr Bedenken. „Act up“ versucht, die Pharmaindustrie zum Herausrücken ihrer Ergebnisse zu bewegen; Aktivisten besuchen Schulen, um Kondome zu verteilen, oder dringen in Konferenzsäle ein, um Blutbeutel zu werfen. Sie setzen ihre teils abgemagerten, als infektiös marginalisierten Körper als Waffe ein, um das Leben anderer zu schützen.
Die Szene einer unter dumpfen Beats aus einer Badewanne voller Kunstblut aufziehenden Kamera macht klar, dass sich auch Regisseur Robin Campillo nicht an die Regeln konventioneller Bilderfolgen hält. Die teils ins Irreale abgleitenden Bilder werden direkt in die Blutbahn des Films geschleust, wo sie in ihrer Gleichzeitigkeit die volle (Durch-)Schlagkraft entfalten. Hin und her springen die Szenen, als die frisch von der Aktion zurückkehrenden Demonstranten ihren Mitkämpfern aufgeregt Bericht erstatten. Bilder der Vergangenheit mischen sich in die ihrer Gegenwart, wo lautes Finger-Schnipsen Zustimmung signalisiert und sich immer jemand anderer an die Spitze des Hörsaals schiebt. Hier gibt es keine Hierarchie und keine Hauptdarsteller, höchstens eine große Liebe, auf die sich der Fokus richtet.
„120 BPM“ ist ein pulsierend körperlicher Film, der ein emotionales Gegengewicht aufbaut, das nicht aus der Todesangst, sondern der Liebe seine Kraft bezieht. So erzählen sich Sean und Nathan während ihrer ersten gemeinsamen Nacht von ihren bisherigen sexuellen Kontakten mit HIV-Positiven. Die zu Bildern werdenden Erzählungen mischen sich mit ihren Zärtlichkeiten. Hier geht es nicht mehr um Eifersucht oder um krank/nicht-krank. Das Leid des Einzelnen wird in der Homosexuellen-Szene, in der es so schnell zum sexuellen Austausch kommen kann, zum Leid aller. Mit Seans und Nathans Liebe zeichnet „120 BPM“ den schleichenden Verlauf einer Krankheit nach, die ihre Opfer jung und unvorbereitet trifft.
Robin Campillo, der sich 1992 selbst der „Act up“-Bewegung angeschlossen hat, ist in Deutschland bislang als Drehbuchautor und Cutter bekannt geworden, insbesondere durch seine Zusammenarbeit mit Laurent Cantet. Seine packende Montage verleiht auch seiner dritten Regie-Arbeit (nach „The Returned“, 2004 und „Eastern Boys“, 2013) eine unglaubliche Leichtigkeit bei aller Schwere und Schönheit, die sich aus der Pluralität der Erfahrungen speist.
„120 BPM“ ist ein filmisch außergewöhnliches Denkmal. Der Film, der puren Aktionismus ausstrahlt, reiht sich mit seinen mitunter durchaus „galgenhumorigen“ Figuren in jene Protestbewegung ein, deren Anliegen heute umso wichtiger erscheint, als immer bessere Medikamente die Prävention zunehmend in den Hintergrund treten lassen. Vielleicht ist das Nebeneinander von Erinnern und Erleben die einzige Art, sich gegen eine Krankheit aufzulehnen, die nur eine Richtung kennt. Für den Ausfallschritt im Motto-Shirt: Danser = Vivre. Und Silence = Mort.