Gaza wäre nichts ohne seinen Strand, sagen die Bewohner der Stadt, in der sich der Nahost-Konflikt immer wieder neu entzündet. In Gaza zu leben fühlt sich wie in einem Gefängnis an. Die meisten Zugänge werden von Israel kontrolliert, nur selten kommt man heraus, und nur wenige Menschen verschlägt es von außerhalb herein.
Die Trümmer der kriegerischen Auseinandersetzungen mit Israel schieben sich durch die ganze Stadt. Als scharfkantige Wellenbrecher strecken sie ihre Arme bis tief ins Meer hinaus; selbst die aus der Ferne heranrollende Dünung wird aufgehalten. Dennoch: Strand und Meer bieten einen der wenigen Zufluchtsorte. Von hier aus ist der Horizont sichtbar, und die weite Welt spült Bewegung, Wind, Fische und Wellen an.
Was für die jungen Menschen in „Raving Iran“ (2016, fd 44 176) die Wüste ist, um abseits der Fänge der Geheimpolizei Partys zu feiern und Momente der Freiheit zu erleben, sind für die Protagonisten in „Gaza Surf Club“ die Drei-Meilen-Zone und der Surfsport. Wenn der Swell kommt, lassen Abu Jayab, Ibrahim und ihre Freunde alles stehen und liegen. Über die Betonbrocken des zerstörten Hafens klettern sie dorthin, wo die Wellen am saubersten brechen, und gleiten mit ihren Brettern über das Meer. Für eine Weile sind die Grenzen, innerhalb derer sich der Alltag sonst abspielt, vergessen.
Der Dokumentarfilm des deutsch-ägyptischen Regie-Duos Philip Gnadt und Mickey Yamine begleitet die Surfer bei ihren Ritten. Mit Aufnahmen aus einem typischen Surf-Film haben diese Szenen jedoch nicht viel gemein. Kein perfektes Licht und kein transparentes Wasser, keine spektakulären Tricks und Kamerapositionen, keine treibende Musik. Im Gegenteil ist der Himmel verhangen, die Surfbretter groß und verbeult; die Kamera fängt von einem selbstzusammengezimmerten Floß aus wankend das Geschehen ein. Gleichwohl schreiben die vorbeiflitzenden Körper und freudestrahlenden Gesichter in diese Bilder Glück, Energie und Lebensfreude ein.
In „Gaza Surf Club“ geht es nicht um Hochglanz, sondern darum, überhaupt einen Film über die Menschen in der Region zu drehen, in die Filmtechnik und das Filmteam erst mühevoll importiert werden mussten. Das tagtägliche Ringen der Surfer, den Trümmern und der überfischten See nicht nur einen Lebensunterhalt, sondern ein Leben abzutrotzen, steht stellvertretend für das Ringen vieler.
Abu Jayab, der Älteste der Gruppe, Fischer und Surfpionier, hat alle Hoffnung längst aufgegeben, dass sich zu seinen Lebzeiten etwas zum Besseren wenden könnte. Wie sein Vater und bald auch seine Söhne geht er tagein, tagaus zu seiner Hütte am Strand, trinkt Tee, flickt Netze und zieht immer weniger und kleinere Fische an Land. An ein Surfboard kamen er und die anderen vor rund zehn Jahren, als ein amerikanischer Surfaktivist ein Dutzend Bretter als Geste der Freundschaft nach Gaza brachte. Sie werden gehegt und gepflegt. Kinder könne man immer neue machen, witzelt Abu Jayab halb im Spaß, halb im Ernst. Aber ein kaputtes Surfboard in Gaza zu ersetzen, sei unmöglich.
Ibrahim, Anfang 20, hegt hingegen einen besonders großen Traum. Mit Hilfe des amerikanischen Surfers Matthew Olsen will er lernen, wie man Bretter baut, um dann den titelgebenden Surfclub in Gaza zu gründen. Tatsächlich erhält er ein Visum, um im Surfmekka Hawaii ein Praktikum zu machen. Die Bilder seiner Reise stellen in aller Hinsicht einen Kontrast dar: Surfen als Massensport, Überflussgesellschaft, Körperkult, blühende Landschaften, Demokratie. Ibrahim hat Heimweh, doch ob er seinen Traum verwirklicht und den Weg nach Gaza zurückfindet, bleibt offen.
Im krassen Gegensatz dazu sind die Handlungsräume der 15-jährigen Sabah mit zunehmendem Alter immer kleiner geworden. Als eines der wenigen Mädchen ging sie mit ihrem Vater regelmäßig surfen. Für eine Muslima schickt sich dies in Gaza aber als Teenager nicht mehr. Zwischen Hausaufgaben, Geschirrspülen, Nagellack und Vergnügungspark vermisst sie das Meer. Auch diese Grenzen gibt es in Gaza.
Ausgehend von der Sehnsucht nach dem Surfen, die allen Protagonisten gemeinsam ist, werfen die unterschiedlichen Porträts und Alltagsbeobachtungen in der Summe einen aufschlussreichen Blick in das Leben der Menschen im Gazastreifen. Obwohl der Surfsport im Kern unpolitisch ist, schwingt hier in jeder Einstellung mit, welch politische Dimension die Ausübung eines Sports in unfreien Gesellschaften annehmen und wie das Kino Politik fassbar machen kann.