Schon bei der ersten Begegnung überschreitet der junge Englischlehrer Grenzen. Obwohl Andi die australische Touristin erst vor wenigen Minuten auf der Straße in Berlin kennengelernt hat, erzählt er ihr schon Details aus seinem Leben und küsst sie zum Abschied vertraulich auf die Wange. Clare lässt es geschehen, obwohl sie nervös und schüchtern wirkt; beim Umziehen in ihrer Unterkunft hatte sie sich geradezu schamhaft bedeckt. Offenkundig fühlt sie sich von dem zudringlichen Verhalten des Lehrers angezogen. Wie das Durchblättern eines Katalogs mit Werken von Gustav Klimt zu verstehen gibt, ist ihre Sehnsucht nach Nähe mit der Bereitschaft zu Ergebung gepaart. So wundert man sich keineswegs, dass sie nach einer gemeinsamen Nacht ihre Reisepläne aufgibt, trotz aller Andeutungen, dass sie sich auf einen Wolf im Schafspelz einlässt. Vorerst will sie bei Andi bleiben. Nur um am nächsten Morgen festzustellen, dass sie in seiner Wohnung festgehalten wird.
Nach „Lore“
(fd 41 348) untersucht Regisseurin Cate Shortland ein weiteres Mal, wie sich totalitäre Verhältnisse in den Beziehungen von Menschen abbilden oder weiterwirken, selbst wenn ein Unrechtsstaat wie die DDR längst untergegangen ist. Der Sozialismus hat in Andi unverkennbar Spuren hinterlassen, wenn er Clare in seiner mit Panzerglas gesicherten Wohnung in einem leeren Hinterhaus gefangenhält, wo sie zwar auf den Fernsehturm schauen, ihn aber nicht beim Spaziergang umrunden kann.
Es sind die psychischen Bindekräfte eines solchen Systems, die der Film zu durchleuchten versucht. Was spielt sich im Täter und im übertragenen Sinn in den Köpfen der Machthaber ab? Wie reagiert das Opfer auf das Eingesperrtsein, wie lernt es, mit dieser „fürsorglichen Gewalttätigkeit“ umzugehen? In Andis Umgang mit Clare mischen sich aufmerksame Zuwendung mit dem Wunsch nach totaler Kontrolle und Überwachung auch kleinster Regungen.
Die Regisseurin beobachtet, wie sich das Opfer dadurch zu verändern beginnt. Will Clare zunächst noch die Tatsachen verleugnen, sucht sie dann nach einem Weg, den Peiniger außer Gefecht zu setzen und den Ausbruch zu wagen. Das gelingt ihr jedoch nicht. Ihre Flucht endet im Hinterhof, was allerdings wenig glaubwürdig in Szene gesetzt ist. So findet sie sich mit ihrem Zustand ab, macht mit, ist jedoch auch bestrebt, das ihr auferlegte sadomasochistische Arrangement umzugestalten und damit ihr Leben minimal selbst zu bestimmen.
Anhand Clares Figur lässt sich erahnen, wie sich ein Leben in der DDR vielleicht angefühlt haben mag. Zugleich aber ist Andi selbst ein Opfer des Systems, da sein Verhalten psychologisch motiviert wird. In seiner Kindheit war die Mutter in den Westen geflohen und hatte ihn bei seinem Vater zurückgelassen. In seinem Verhalten lässt sich das infantile Bewältigungsmuster eines Traumas erahnen. Auf der anderen Seite erkundet der Film in Clares erzwungenem Bleiben auch eine private Beziehungshölle. Denn in den Figuren kommen zwiespältige Gefühle und Bedürfnisse hoch. Dass die junge Frau mit Andi in seine Wohnung geht, interpretiert der bereits als Wunsch nach einer dauerhaften Beziehung. Dauer lässt sich für ihn in postromantischen Zeiten aber nur noch durch Zwang und Gewalt herstellen.
Der Film von Cate Shortland basiert auf dem gleichnamigen Roman von Melanie Joosten und behält dessen Erzählperspektive bei. Er schildert die sinnbildhafte Beziehung aus beiden Perspektiven, da die Inszenierung auch nachzeichnet, was sich in Andis Leben außerhalb der Wohnung abspielt. Gleichwohl reicht der Film nicht an die Dichte und Luzidität des Romans heran. Das liegt vor allem daran, dass die psychologische Durchdringung ihrer gegenseitigen Beziehung, die in der Vorlage ihren Schrecken vor allem daraus bezieht, was sich das Opfer innerlich ausmalt, im Film durch plakative Thriller-Muster und die musikalische Untermalung plattgemacht und überdies unnötig in die Länge gezogen wird. Um die Spannung zu steigern, wird mit dem Äußersten hantiert. So rammt Clare einen Schraubenzieher in Andis Hand oder wird ein zu Hilfe eilender Mann blutig erlegt. Die Spannungsdramaturgie rangiert dabei eindeutig vor der erzählerischen Logik, was auch gutwillige Zuschauer am Sinn dieser Muster zweifeln lässt.