Es beginnt mit einer jungen Frau, die einsam und verunsichert in einer Limousine sitzt und durch einen nächtlichen Wald chauffiert wird. Sie kommt in ein riesiges altmodisches Haus, mit einem englisch eingerichteten Flügel und einem in japanischer Mode gehaltenen Trakt, mit verwirrend vielen Zimmern und Gängen und einem labyrinthischen Grundriss, Auf den ersten Blick fühlt man sich in ein klassisches „Gothic Tale“ versetzt, eine Schauergeschichte der Schwarzen Romantik. Aber das Auto, mit dem die Frau anreist, zeigt, dass man sich in den 1930er-Jahren befindet. Man spürt die viktorianische Atmosphäre der Vorlage von Sarah Waters. Aber die junge Frau ist eine Koreanerin namens Sooki, und die 1930er-Jahre waren die Zeit der japanischen Besatzung von Korea und der Mandschurei.
Sooki soll als Dienerin arbeiten. Als allererstes bekommt sie (und damit auch der Zuschauer) von der Hausvorsteherin eine Führung durch das Gebäude. Im Zentrum steht die kostbare Bibliothek des Onkels ihrer künftigen Herrin, eines Büchersammlers. Ihr wird eine kleine fensterlose Kammer zugewiesen, direkt neben dem Schlafzimmer der Herrin; schließlich soll sie jederzeit zur Stelle sein. Hideko, die Herrin, ist eine unverheiratete, reiche Erbin.
Doch schon sehr kurz nach dieser Exposition wendet sich das Blatt: Sookis Erzählungen aus dem Off machen klar, dass die Dienerin eigentlich eine perfekt ausgebildete Taschendiebin ist, die schon im Alter von fünf Jahren echte Edelsteine von falschen unterscheiden konnte, und die auch alle anderen ausgefeilten Tricks ihres Gewerbes kennt. Nun weiß der Zuschauer, dass es eine kriminelle Verschwörung gegen Lady Hideko gibt, die um ihr Erbe geprellt werden soll.
Doch bald bekommt die Geschichte eine weitere, eine radikale Wendung: Es beginnt eine Liebesgeschichte zwischen Herrin und Dienerin, womit der ursprüngliche Plan ins Wanken gerät. Oder ist auch das nur eine optische Täuschung? Ist alles noch einmal und wieder ganz anders?
Dies ist, in mehreren Kapiteln erzählt, eine Geschichte der Vexierspiele und Perspektivwechsel, der Wendungen und Überraschungen. Wie die Taschendiebin Sooki täuscht auch der Film ein ums andere Mal, bedient sich Finten und Umkehrungen. Überaus virtuos erzählt Park Chan-wook eine im Kern komplexe Liebesgeschichte, die er mit dem Sujet eines romantischen Kriminalthrillers verbindet. Das Resultat ist ein Film voller Eleganz, Tempo und Dynamik, getrieben von schöner Musik und großer Inszenierungskunst.
Eine koreanisch-japanische Liebesgeschichte, noch dazu unter Frauen, ist in Asien noch immer ein Tabubruch. Auch hier steht, wie meist in Parks Filmen, ein Fetischismus im Zentrum – der des Zuschauers. Alles ist prachtvoll ausgestattet und anzusehen, die kostbaren Bücher der Bibliothek, die Wandgemälde, Möbel und Tapeten, selbst ein riesiger Oktopus, der einmal in einem viel zu kleinen Aquarium im für die Story bedeutenden Keller des Onkels auftaucht. Was zugleich ein amüsantes Selbstzitat des Regisseurs ist: In „Oldboy“
(fd 36 666) wurde ein kleiner Oktopus lebendig gegessen.
Hinzu kommen die nackten Frauen- und Männerleiber bei den gelegentlichen, dann aber vergleichsweise expliziten Sexszenen. Park erfüllt insofern alle Erwartungen an sein Kino, an das Kino überhaupt: „Die Taschendiebin“ argumentiert in Bildern; es ist ein Film der sinnlichen Gewissheiten, nicht so sehr der intellektuellen Analyse und psychologischen Triftigkeit. Trotzdem ist es ein kluger, facettenreicher Film.
Übrigens bedeutet der koreanische Titel in wörtlicher Übersetzung „unverheiratete Frau“; er bezieht sich insofern im Gegensatz zum internationalen und deutschen Titel auf Hideko – oder zumindest auf beide Hauptfiguren. Dies ist nur ein weiteres Indiz dafür, dass in dieser Art Kino alles im Auge des Betrachters liegt.